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Dienstag, 10. Juni 2014

Wie war's bei Anne De Keersmaekers VORTEX TEMPORUM und PARTITA 2 ?


ROSAS | Vortex Temporum

Am Abschlusstag des Theaterfestivals THEATER DER WELT des Internationalen Theaterinstituts Mannheim fanden unter anderem noch zwei Aufführungen der Belgierin Anne Teresa De Keersmaeker statt, die beide sehr nah am Puls der Zeit positioniert waren. Das erste Tanzstück  hieß "Vortex Temporum", fand nachmittags um 14 Uhr statt und das zweite "Partita 2", abends um 20 Uhr. Beide Stücke sind jüngste Arbeiten der Choreografin aus dem Jahr 2013. Auffällig ist die Requistenlosigkeit und Kargheit der Bühne, keine Kostüme, keinerlei Verzierung. Im Vordergrund stehen ernste zeitgenössische oder klassische Musik, ergänzt durch ihren Tanzstil. Es sind oft die Bewegungsformen, die dominieren, nicht die Bedeutungen. Das Spiel mit Varianten, Wiederholungen beschäftigt sie mit.

In VORTEX TEMPORUM, was übersetzt "Zeitwirbel" heißt, spielen sechs Musiker des ICTUS ENSEMBLES neue Musik von Gérard Grisey (1996). Es ist für mich eindeutig das stärkere Stück von beiden. Wichtiger als die Blas- und Streichinstrumente ist das Piano, das eine tragende Rolle beibehält. 
Nach dem Genuss der Musik entfernen sich die Musiker samt Instrumenten, und es beginnt im zweiten Bild die tänzerische Auseinandersetzung des De Keermaeker-Ensembles ROSAS (Brüssel) mit dem Thema Zeit. Fast wie ein Ball wird wohl das, was alle bewegt, die Zeit (?) von einem zum anderen geworfen. Mal wirft sie einer in die Luft, fangen die anderen sie auf, mal reagieren die anderen solo oder zu zweit parallel. Nach der Auflösung der Simultanität von Paaren ist jeder mit sich beschäftigt. Die Drehbewegungen sind bereits aktiv, wie Wirbel werden die Menschen in der Zeit getragen. 
Ein exponierter Tänzer mit grünen Socken und grünen Hoseninnentaschen übernimmt einen Solopart, rennt, flüchtet, vor wem auch immer, wahrscheinlich auch vor der Zeit, die unerbittlich unser Handeln dominiert. Keiner kann aus, wer sich dem Glaubensbekenntnis Zeitplan/Uhrzeit unterwirft. Selbst der Pianist macht Anstalten lieber gehen zu wollen, steht kurz auf, setzt sich wieder, kontinuierlich weiterspielend. 
Im nächsten Schritt kehren das Tanz- und Musikensemble zurück. Alles fließt in einen Riesenzeitwirbel ein, alle werden erfasst vom Zeitwirbel bzw. -strudel. Es dreht sich ein großes Karussell in Zeitlupe, eine Metapher für das Vergehen von Zeit, das Wechseln von Leben und Tod. Ein Universum in Drehbewegung, Planeten, die kreisen. Traumartig tauchen Wörter und Zahlen auf  ... pretty, disease, once, empty ... Das Dasein ein Getriebensein, Stürzen und Fallen, der Solotänzer zählt durcheinander abwärts, springt mit den Zahlen hin und her, bis alles erlahmt, abstirbt, zum Stillstand kommt. Das Licht geht aus. 
Ein starker Kontrast das nachfolgend grelle Licht und volle Bewegung. Die Rosas-Tänzer balancieren, fallen um, wirbeln über die Bühne und geraten wieder in eine verlangsamte Bewegung, ein delirisches Drehen im All, Schwerelosigkeit. Auffallend die Knäuelbildung, wie magnetische Anziehung, dann wieder solo und schneller. Im Publikumsgespräch im Anschluss an "Partita 2" wies sie auch auf die entscheidende Komponente ihrer Choreografie hin. Alles ist ein Spiel der Kräfte und Achsen, Gravitation und Fliehkraft, horizontalen Bewegungen und vertikalen. Die Schrittfolgen wie beim Zeitvergehen im Tick-Tack-Rhythmus, oder mal im Tangoschritt etc. Die choreografische Struktur wird immer wieder mit der Liebe zur freien Improvisation erweitert.

PARTITA 2 heißt das Musikstück von Johann Sebastian Bach, das im ersten Bild 20 Minuten lang bei absoluter Dunkelheit im Schauspielraum von Amandine Beyer (Aix-en-Provence) auf einer Violine gespielt wird. Die Musik ist so dominant und die Aufmerksamkeit fokussierend, dass die größtmögliche Konzentration und Aufnahmebereitschaft hergestellt wird. Und genau das lag im Interesse der Choreografin und Violinistin, die ganz profan den Handyspuk der Zuschauer abstellen wollten. Und es gelang. Bei einigen Zuschauer(inne)n stellten sich wohl Beklemmungen bzw. bereits Panikattacken ein, drei mussten den Raum verlassen.
Anschließend kam ein reines Tanzbild ohne Violinenbegleitung mit der Choreografin selbst und Boris Charmatz (Rennes), das mich etwas irritierte, weil ich nach Bach mehr Ästhetik in den Motiven und Figuren erwartet hätte. Dominant war sehr schnelles Laufen und kleine Sprünge von Boris C., deren Zweck für die Darstellung der Beziehung nicht so ganz klar war. Eventuell Freudensprünge wegen der Paarwerdung. Kleine Neckereien, einmal Aufbürden des Partners, einmal Fallenlassen, paralleles Laufen, Schleichen, Singsang und Gesumme, ein Aneinanderfesthalten und sich schrittweise Fortbewegen, indem der eine stehend geht, der andere liegend Schrittbewegungen macht. Der ständige Wechsel der vertikalen und horizontalen Lage per Armzug zeigte eine Gleichberechtigung, eine Positionendemokratie. 
Die Fortbewegung ist Anne De K.'s Tanzstil: "Walking is my dancing", wobei sie auf die Bewegungsevolution von gebückt wie beim Affen zu aufrecht beim Mensch hinweist. Wieder bedeutend die Vertikalachse mit Sonne oben, Erde unten. Auf der Horizontalachse die Teilung des Körpers in Oberkörper und Unterkörper. Der untere Teil des Körpers ist mit Walking beschäftigt, der obere mit "Talking is my dancing", Erzählen durch Gestik. Das Zusammenspiel ist eine Art chemische Mischung, die die Tänzer dann selbst herstellen.
In Teil 3 werden die Teile 1 und 2 integriert und wie bei serieller Musik wiederholt. Zur Violine tanzt zunächst erneut Anne De K., dann Boris C. solo, bevor sie in den Paar-Bewegungsablauf von Teil 2 übergehen, diesen aber nicht total identisch, sondern wieder ein Stück weit individuell chemisch verändert neu interpretieren.




Partita 2 (c) Herman Sorgeloos