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Samstag, 7. Dezember 2013

Prosa: TEUFELSKINDER (13) - Hinter den Karten (4a) - von Jules Amedée Barbey d'Aurevilly


Hinter den Karten

4a

Wenn ich heute auf diesen ausführlich geschilderten Spielabend, der Karkoëls mehrjährigen Aufenthalt in *** einleitete, zurückdenke und mir seine an sich belanglosen und unbedeutenden Einzelheiten vergegenwärtige– was hatte sich weiter abgespielt als eine alltägliche Partie Whist? –, so erscheint er mir doch, an der Kette späterer Ereignisse, sehr merkwürdig und folgenschwer.
Die vierte Person an jenem Whisttisch, die Gräfin von Stasseville, verlor ihr Geld mit der aristokratischen Gleichgültigkeit, die sie allerwegen zur Schau trug. Vielleicht entschied dieses erste Spiel mit dem Fremdling ihr ganzes weiteres Schicksal. Das Leben ist ja so seltsam verknüpft. Damals nahm sich niemand die Mühe, die Gräfin zu beobachten. Das Klappern der Spielmarken und das Knittern der Karten ließ nichts anderes aufkommen. Es hätte sich wohl gelohnt, wenn man in die Seele dieser Frau hätte blicken können, die uns allen wie ein scharfkantiges Stück Eis erschien, sooft man sich Gedanken über sie machte. Wer weiß, ob das, was man sich später entsetzt zuraunte, nicht schon an jenem Abend seinen Anfang genommen hat?
Die Gräfin von Stasseville war eine Dame von vierzig Jahren, von sehr zarter Gesundheit, bleich und schmächtig, aber von einer Blässe und Schlankheit, die ganz außergewöhnlich war. Ihre bourbonische, etwas zusammengedrückte Nase, ihr kastanienbraunes Haar, ihre feinlinigen Lippen, alles das verriet edle Abstammung und einen stolzen Sinn, der wohl leicht in Grausamkeit umschlagen konnte. Ihre schwefelgelbe Hautfarbe war krankhaft. Aber trotz ihrer Blässe, trotz ihrer Lippen von der Farbe verwelkter Hortensien, oder vielmehr gerade in diesen kaum sich abzeichnenden schmalen und wie eine Bogensehne bebenden Lippen konnte der Menschenkenner ein erschreckliches Merkmal von verborgener Willenskraft und unterdrückter Leidenschaft wahrnehmen. Die Hinterländler freilich erkannten das nicht. Sie sahen in der harten dünnen Lippenlinie höchstens die mörderische Sehne, auf der immerdar der Pfeil einer bissigen Bemerkung des Abschnellens harrte.
Goldgrün schillernde Augen – die Gräfin führte wie in ihrem Wappen so auch in ihrem Blick goldene Sterne in grünem Feld – krönten ihr Antlitz gleich zwei Fixsternen, aber ohne ihm Wärme zu verleihen. Diese beiden goldgesprengelten Smaragde, gefaßt vom stumpfen Blond der Wimpern und Brauen, wirkten unter der gewölbten Stirn so kühl und kalt, als hätte man sie eben aus dem Fisch des Polykrates herausgeholt. Nur ihres Spottes glitzernder Geist, scharf wie eine Damaszenerklinge, entzündete zuweilen in dem vereisten Blick zuckende Blitze. Die Frauen haßten den Witz der Gräfin, als wäre er ihre Schönheit gewesen. Und wahrlich, er war ihre Schönheit! Ähnlich dem Fräulein von Retz – von der uns der Kardinal ein literarisches Bildnis geschenkt hat wie ein Liebhaber, dem die Schuppen von den Augen gefallen sind, hatte sie einen Fehler im Wuchs, der strenggenommen ein Gebrechen war. Ihr Vermögen war beträchtlich. Ihr Gatte hatte ihr bei seinem Tode die geringe Last von zwei Kindern hinterlassen, einen entzückend dummen kleinen Bengel, der einem Abbé zur ebenso väterlichen wie erfolglosen Erziehung anvertraut war, und Hermine, deren Schönheit in den anspruchvollsten und kunstsinnigsten Kreisen von Paris bewundert worden wäre. Während man dem Knaben nichts beizubringen vermochte, war das Mädchen tadellos erzogen, vom herkömmlichen Standpunkt betrachtet. Die Tadellosigkeit der Mutter war allerdings immer ein wenig gleichbedeutend mit Hochnäsigkeit. Sogar ihre Tugend hatte etwas Anmaßendes, und wer weiß, ob dies nicht der einzige Grund war, daß sie an ihr festhielt. Wie dem auch sei, tugendhaft war sie. Ihr Ruf gebot der Verleumdung Halt. An seinem Stahl war noch jeder Schlangenzahn abgeglitten, und aus Ärger darüber, daß man dieser Frau nichts anhaben konnte, hatte man sich damit begnügt, sie der Kälte zu zeihen. Und ihre besten Freundinnen hatten an ihr den bekannten Querbalken entdeckt, den man einer berühmten schönen Frau des achtzehnten Jahrhunderts angedichtet hat, um zu erklären, daß sie es fertigbrachte, das gesamte ritterliche Europa zu Füßen schmachten zu lassen, ohne daß auch nur einer einen Zoll höher kam.«
Die Gewagtheit besagter Anspielung, die unter seiner Zuhörerschaft einen kleinen Aufruhr beleidigter Sprödigkeit entfesselt hatte, beschwichtigte der Erzähler durch den heiteren Ton seiner letzten Worte. Der Ausdruck »Sprödigkeit« soll hier indes keine Mißbilligung ausdrücken, denn die Sprödigkeit von Damen, die sich nicht zieren, ist etwas sehr Anmutvolles. Überdies war es bereits so dunkel geworden, daß man diese Empörung mehr spürte als sah.
»Auf Ehre!« warf der alte Vicomte von Rassy ein. »So wie Sie sie schildern, Verehrtester, so war sie wirklich, die Gräfin von Sta... Stasseville!«
Er war Stotterer und bucklig, aber so geistreich, daß er gut auch noch hätte hinken können. Wer kannte in Paris den Vicomte nicht, dieses noch lebende Denkmal der kleinen Verderbtheiten des galanten Jahrhunderts?
In seiner Jugend bildhübsch wie der Marschall von Luxemburg, hatte er wie dieser seine schwache Seite, und selbige war ihm verblieben. Die starke war wer weiß wohin. Wenn ihn die jungen Leute bei einem Anachronismus der Lebensführung ertappten, so pflegte er zu sagen: »Zum mindesten schände ich mein graues Haar nicht!« Er trug nämlich eine kastanienbraune Perücke à la Ninon, mit einem falschen fleischfarbenen Scheitel und ganz unglaublichen und unbeschreiblichen Korkzieherlocken.
»Ah, Sie haben die Gräfin gekannt?« erwiderte der unterbrochene Erzähler. »Trefflich! Dann können Sie mir ja bestätigen, daß ich mich der Wahrheit befleißige!«
»Wie durchs Fenster gezeichnet ist ihr Po...por...trät!« bestätigte der alte Vicomte, indem er sich aus Ärger über seine Stotterei einen leichten Schlag auf die Wange versetzte, auf die Gefahr hin, das aufgelegte Rot zu verwischen. Er schminkte sich nämlich, und zwar schamlos, wie er das in allem war. »Ich habe sie u...un...gefähr um die Zeit gekannt, wo Ihre Geschichte spielt. Sie kam jeden Winter auf ein paar Tage nach Paris. Ich habe sie getroffen bei der Prinzessin von Cou...Cour...tenay, die mit ihr verwandt war. Die Gräfin von Sta...Stasseville, ja, ja, Witz in Eis serviert, das war sie! Man bekam Husten in ihrer Nähe.«
»Mit Ausnahme der paar Tage, die sie jeden Winter in Paris verbrachte«, begann der verwegene Erzähler von neuem, der seinen Personen nicht einmal Halbmasken aufsetzte, »war das Leben der Gräfin von Stasseville eintönig und langweilig, wie eben das Dasein einer anständigen Frau in einer Kleinstadt ist. Sechs Monate des Jahres wohnte sie in ihrem Stadthaus, in dem kleinen Ort, dessen geistiges Gepräge ich Ihnen beschrieben habe, und in den andern sechs Monaten im Herrenhaus ihres schönen Landgutes, vier Stunden von der Stadt. Alle zwei Jahre führte sie ihre Tochter nach Paris. Wenn sie allein hinfuhr, pflegte sie sie bei einer alten Tante, dem Fräulein von Triflevas, zu lassen. Nach Spa, Plombières oder in die Pyrenäen ging sie nie. Sie mied die Badeorte. War es aus Furcht vor der Nachrede? Was munkelt man nicht alles, wenn in der Provinz eine alleinstehende Dame in den Verhältnissen der Frau von Stasseville in ein fernes Bad reist? Was argwöhnt man da nicht? Der Neid derer, die zu Hause bleiben müssen, hält sich damit schadlos an denen, die das Vergnügen haben, auf Reisen zu gehen.
Die so gern spöttische Gräfin war viel zu hochmütig, um auch nur eine ihrer Launen der öffentlichen Meinung zu opfern; aber von Badekuren hielt sie nichts; und ihr Hausarzt hatte sie auch lieber in der Nähe statt dreißig Meilen davon, denn auf so große Entfernung lassen sich die häufigen heuchlerischen Besuche zu je zehn Franken nicht gut machen. Übrigens fragt es sich, ob die Gräfin Launen hatte. Geist und Phantasie sind Dinge, die miteinander nichts zu tun haben. Ihr Geist war so klar, so schneidend, so auf die Wirklichkeit gestellt, daß er das Launenhafte eigentlich ausschloß. Wenn sie lustig war, was selten vorkam, so hatte das den harten Klang einer Kastagnette aus Ebenholz oder einer Schellentrommel, bei der man das gespannte Fell und das dröhnende Metall heraushört. Man vermochte sich nicht vorzustellen, daß aus ihrem trockenen messerscharfen Gehirn jemals etwas könne hervorgehen, was an Phantasie gemahnte, was wie ein Gebilde jener Träumerei oder Sehnsucht gewirkt hätte, die einen dazu drängt, fortzugehen und eine andere Gegend aufzusuchen als die, wo man sich gerade befindet. Während der zehn Jahre, die sie eine reiche Witwe und somit völlig ihre eigene Herrin war, hätte sie ihr Leben überall in der Welt verbringen können, weit weg von diesem adeligen Nest, in dem sie die Abende damit totschlug, Whist zu spielen mit alten Jungfern, die noch die Tage der Chouans erlebt, und mit ergrauten Kavalieren und vergessenen Helden von Anno Tobak. Wie Lord Byron hätte sie mit einer Bibliothek, einer Küche und einem Vogelbauer in ihrem Reisewagen durch die Welt ziehen können, aber sie hatte nicht die geringste Lust dazu. Sie war noch mehr als träg; sie war gleichgültig; genauso unzugänglich wie Marmor von Karkoël wenn er spielte. Nur war Marmor ein leidenschaftlicher Spieler, während die Gräfin auch beim Spiel gleichgültig war. Ihr war alles einerlei. Sie war eine stillstehende Natur. Abgesehen von ihrem Witz führte sie das Leben einer Mumie. Obwohl sie leidend aussah, leugnete ihr Arzt, der nie recht klug aus ihr ward, jede wirkliche Krankheit. War das übertriebene Verschwiegenheit, oder sah er sie tatsächlich nicht? Allerdings klagte sie niemals, weder über körperliche noch seelische Leiden. Es fehlte ihr auch jener fast greifbare Schatten von Schwermut, der gewöhnlich wie ein Mal auf der Stirn einer Vierzigjährigen lastet. Ihre Tage glitten leise, nicht stürmisch von ihr ab. Mit ihren grüngelben Undinenaugen sah sie dem spöttisch zu, wie sie jedwedem Ding zusah. Den ihr anhaftenden Ruf der geistreichen Frau strafte sie Lügen, indem sie an ihrem Wandel nichts von alldem erscheinen ließ, was man am Leben starker Persönlichkeiten Entgleisungen nennt. Sie tat einfach und natürlich, was alle Frauen ihrer Kaste taten, nichts mehr und nichts weniger. Sie bewies damit, daß die ›Gleichheit‹, der Wahn des vierten Standes, nur auf der Höhe der Kultur möglich ist. Nur unter wahrhaft vornehmen Menschen gibt es nichts Höheres mehr. ›Ich bin nichts als der erste meiner Edelleute‹, hat Heinrich der Vierte in diesem Sinne gesagt. Die Gräfin war zu sehr Aristokratin, als daß sie irgendwie aus dem Kreis ihrer Standesgenossinnen hätte hervorragen wollen. Gleich ihnen erfüllte sie ihre äußerlichen gesellschaftlichen und kirchlichen Pflichten mit der schlichten Genauigkeit, die das oberste Gesetz eines Herkommens war, das jeden Überschwang verpönte. In nichts blieb sie hinter ihrer Gesellschaft zurück; in nichts ging sie über sie hinaus. War es ihr schwergefallen, dies eintönige Provinzleben auf sich zu nehmen, worin das, was ihr an Jugend verblieben, einschlief wie ein Weiher unter Seerosen? Die Beweggründe dazu, Gründe der Vernunft, des Gewissens, der Triebkräfte, der Erwägung, des Blutes, der Geschmacksart, aller der innerlichen Flammen, die ihr Licht auf unsere Handlungen werfen, waren bei ihr in nichts zu spüren. Nichts erhellte von innen her die äußere Lebensführung dieser Frau. Müde schließlich, die Gräfin von Stasseville immerdar zu beobachten, ohne dabei etwas zu entdecken, hatten die Leute – die doch in der Provinz die Geduld von Sträflingen oder Anglern haben, wenn es gilt, etwas herauszukriegen – die Lösung dieses Rätsels aufgegeben, wie man eine alte Handschrift beiseite wirft, die man durchaus nicht entziffern kann. ›Wir sind eigentlich recht dumm‹, hatte eines Abends – und das war schon ein paar Jahre her – die verwitwete Gräfin von Hautcardon in lebhaftem Ton erklärt, ›uns den Kopf darüber zu zerbrechen, was in der Seele dieser Frau stecken mag. Vermutlich steckt nichts darin!‹ Diese Ansicht der Gräfin war allgemein angenommen worden, und sie hat geherrscht, wie ein schwacher Fürst herrscht, bis Marmor von Karkoël, der Mann, der vielleicht den Lebensweg der Gräfin von Stasseville am allerwenigsten hätte kreuzen sollen, vom andern Ende der Welt kam und sich an den Spieltisch setzte, an dem gerade ein Spieler fehlte. Wie Hartford, der ihn eingeführt hatte, berichtete, war er in den nebeligen Bergen der shetländischen Inseln geboren. Er stammte aus dem Land, in dem sich Walter Scotts herrlicher Roman ›Der Pirat‹ abspielt, jene lebenswahre Geschichte, die Karkoël mit einigen Abweichungen in der kleinen unbekannten Stadt an der Küste des Kanals wieder aufleben lassen sollte. Er war am Gestade des Meeres, das Clevelands Schiffe durchfurcht hatten, groß geworden. Als Knabe hatte er mit den Töchtern des alten Toil getanzt, wie der junge Mordaunt. Diese Tänze hatte er nicht verlernt und sie mehr als einmal vor mir auf dem Eichenparkett in der nüchtern-ernsten kleinen Stadt getanzt, die so recht das Gegenstück war zur wilden Romantik dieses schottischen Tanzes. Mit fünfzehn Jahren hatte man ihm ein Leutnantspatent in einem englischen Regiment gekauft, das nach Indien ging; und zehn Jahre lang hatte er gegen die Marattahs gefochten. Soviel erfuhr man alsbald von ihm und von Hartford, ferner, daß er von Adel und mit dem berühmten Geschlecht der Douglas ›mit dem blutigen Herzen‹ verwandt war. Aber das war alles. Vom übrigen wußte man nichts und hat nie etwas gewußt. Seine Abenteuer in Indien, diesem großartigen entsetzlichen Land, wo die Menschen mit erweiterten Lungen anders atmen lernen, so daß ihnen die Luft des Abendlandes dann nicht mehr genügt, davon erzählte er nie. Seine Erlebnisse waren in geheimnisvollen Runen auf seiner sonnenbraunen Stirn eingegraben, deren Wand sich ebensowenig öffnete wie die Büchsen mit asiatischem Gift, die indische Fürsten für die Tage der Niederlage und des Unglücks in ihren Schreinen aufbewahren. Sie verrieten sich im scharfen Blitz seiner schwarzen Augen, den er auszulöschen verstand, wenn man ihn anblickte, wie man eine Fackel verlöscht, wenn man nicht gesehen sein will, und in jener erwähnten rastlosen Gebärde, mit der er sein Haar an der Schläfe wohl zehnmal hintereinander niederdrückte, beim Whist oder beim Ecarté. Aber außer jenen Hieroglyphen der Mienen und der Gesten, die nur scharfe Beobachter zu deuten verstehen und die wie die ägyptischen Schriftzeichen nur in großen Zügen reden, war Marmor von Karkoël nicht zu entziffern. Er blieb ebenso unerforschlich in seiner Art wie die Gräfin von Stasseville in der ihren. Er war ein großerSchweiger. Die jungen Edelleute der Stadt – und es gab ein paar sehr geistreiche darunter, neugierig wie die Frauen und gewandt wie die Eidechsen – brannten vor Begier, ihn zu bewegen, die ungedruckten Denkwürdigkeiten seiner Jugend zwischen ein paar amerikanischen Zigaretten zu erzählen; aber sie waren immer abgeblitzt. Dieser Seelöwe der Hebriden, den die Sonne von Lahore gebräunt hatte, ließ sich nicht in den Mausefallen fangen, die ihm die Eitelkeit in den Salons stellte, in den Pfauenfallen, in denen die französische Selbstgefälligkeit so gern ihre Federn läßt, wenn sie sie nur entfalten darf. Dagegen war nichts zu machen. Karkoël war so mäßig wie ein Türke, der an den Koran glaubt. Er war wie ein ganz Stummer, dem das Geheimnis seiner Gedanken niemand entreißt. Ich habe ihn nie etwas anderes als Wasser oder Kaffee trinken sehen. Und die Karten, die seine Leidenschaft zu sein schienen, waren sie wirklich seine Leidenschaft oder nur ein Deckmantel? Verbarg er hinter ihnen wie hinter einer spanischen Wand seine Seele? Ich habe diesen Gedanken immer gehabt, wenn ich ihn beim Whist sah. Er spielte eigentümlich. Er pflanzte, züchtete und pflegte den Spielteufel dermaßen in der spielsüchtigen Seele dieser kleinen Stadt, daß sie nach seinem Fortgang in schrecklichen Spleen verfiel, in den Spleen der betrogenen Leidenschaft, der sie wie der Scirocco überfiel und sie noch englischer machte, als sie sowieso war.
Der Whisttisch war in Karkoëls Wohnung schon am frühen Vormittag aufgestellt, und sein Leben war an den Tagen, die er nicht im Vanillenhof oder sonst in einem Schloß der Umgegend verbrachte, so einfach wie das Leben eines Monomanen. Er stand um neun Uhr auf und frühstückte mit einem oder dem anderen Freund, der zum Whist gekommen war. Das dauerte bis fünf Uhr nachmittags. Da sich dazu immer sehr viele Herren einfanden, so löste man sich nach jedem Robber ab, und die Nichtspielenden wetteten.
Übrigens kamen zu jenen Vormittagspartien nicht nur junge Leute, sondern auch die würdevollsten Männer der Stadt. Familienväter wagten es, ihre Tage in dieser Spielhölle zuzubringen, und die verheirateten Damen versäumten in ihrem Groll keine Gelegenheit, dem Schotten das Böseste nachzusagen, als hätte er dem ganzen Land die Pest eingeimpft. Um fünf Uhr trennte man sich, um sich gegen Abend wieder in der Gesellschaft zu treffen und so zu tun, als füge man sich der Gewohnheit des Hauses, in dem man sich traf, indem man sich zum üblichen Spiel hinsetzte, das in Wahrheit nichts als die Fortsetzung des Vormittags-Whistes bei Karkoël war.
Sie können sich vorstellen, welchen Grad der Vollkommenheit diese Herren erreichten, die sich mit nichts anderem mehr abgaben. Sie erhoben das Whist zur Höhe der schwierigsten und glänzendsten Fechtkunst. Natürlich gab es dabei beträchtliche Verluste; aber Unglücksfälle und Zusammenbrüche, wie sie das Spiel gewöhnlich nach sich zieht, wurden durch die Meisterschaft der Spieler ferngehalten. Alle Mitspieler waren stark genug, um das Gleichgewicht des Glückes zu halten; und es spielte auch jeder allzuoft mit jedem, als daß man sich in gewissen Zeiträumen, wie es in der Spielersprache heißt, nicht revanchiert hätte.
Karkoëls Einfluß, gegen den die Damen des Kreises insgeheim empört waren, nahm keineswegs mit der Zeit ab; im Gegenteil, er ward immer mächtiger. Das ist begreiflich. Er ging weniger von seiner Person und seinem Wesen aus, als vielmehr davon, daß er eine bereits vorhandene Leidenschaft durch seine eigene Neigung vermehrt hatte. Das beste Mittel, vielleicht das einzige, die Menschen zu beherrschen, ist bekanntlich, sie bei ihren Leidenschaften zu packen. Damit mußte Karkoël Macht erlangen. Übrigens wollte er gar nicht herrschen. Er wußte selbst nicht, wie er dazu kam. Aber tatsächlich hatte er Macht wie ein Zauberer. Man riß sich um ihn. Solange er in der Stadt weilte, fand er immer die gleiche Aufnahme. Sie war geradezu ein fieberndes Suchen. Die Frauen, die ihn als Spieler fürchteten, sahen ihn lieber bei sich im Haus, als daß sie ihre Männer und Söhne bei ihm wußten. Sie empfingen ihn, wie Damen einen Herrn empfangen, den sie zwar nicht lieben, der aber der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, der Mode oder irgendeiner Bewegung ist. Im Sommer brachte er je vierzehn Tage bis vier Wochen auf den verschiedenen Gütern zu.
Der Marquis von Saint-Alban ließ ihm seine besondere Bewunderung angedeihen. Gönnerschaft würde zuwenig sagen. Auf dem Land wie in der Stadt gab es ein ewiges Whistspielen. Ich erinnere mich (ich verlebte damals als Gymnasiast meine Ferien in der Heimat) einen prächtigen Lachsfang auf der Douve mitgemacht zu haben, wo Karkoël während der ganzen Zeit im Kahn mit einem Kavalier der Gegend Whist mit zwei Strohmännern spielte. Und wenn sie ins Wasser gefallen wären, sie hätten weitergespielt!
Eine einzige Dame sah ihn nie in ihrem Schloß und nur selten in der Stadt bei sich. Das war die Gräfin von Stasseville.
Niemand wunderte sich darüber. Sie war Witwe und hatte eine reizende Tochter. In der Provinz, in einer neidischen abgezirkelten Gesellschaft, wo jeder in das Leben des Nächsten eindringt, kann man nicht vorsichtig genug jenen Schlußfolgerungen vorbeugen, die aus dem, was man sieht, auf das schließen, was man nicht sieht. Die Gräfin übte diese Vorsicht, indem sie Marmor nie auf ihr Schloß einlud und ihn in der Stadt nur sehr öffentlich, an den Tagen, wo sie alle ihre Bekannten bei sich sah, empfing. Ihre Höflichkeit gegen ihn war kühl und unpersönlich. Sie war der Ausdruck der Wohlerzogenheit, die man vor jedermann beweisen soll, nicht um der anderen, sondern seiner selbst wegen. Er seinerseits betätigte die nämliche Artigkeit. Alles dies geschah so ungezwungen, so völlig natürlich bei beiden, daß man sich vier Jahre lang hat täuschen lassen. Ich habe bereits gesagt: abgesehen vom Spiel war Karkoël offensichtlich für nichts zu haben. Wenn er etwas zu verbergen gehabt hat, so deckte er es vortrefflich durch seine schweigsamen Gewohnheiten. Für die spottlustige Gräfin dagegen war es schwerer, sich zu verhüllen. Sie verhüllen, heißt das nicht schon sich verraten? Indessen, da sie die schimmernden Schuppen und die dreifach gespaltene Zunge einer Schlange hatte, so besaß sie auch deren Klugheit. Nichts beeinträchtigte den Glanz und die Schärfe ihres zur Gewohnheit gewordenen Witzes. Wenn man Karkoël in ihrem Beisein erwähnte, bedachte sie ihn öfter mit einem bösen Wort, das wie ein Hieb herniedersauste.

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Freitag, 22. November 2013

Prosa: TEUFELSKINDER (9) - Verbrecherisches Glück (2) - von Jules Amedée Barbey d'Aurevilly

Verbrecherisches Glück (2)
Wahre Geschichten kann nur der Teufel erzählen!



Die Gräfin hatte ausgetrunken. ›Danke‹, flüsterte sie. ›Nehmen Sie dies wieder fort!‹
Haute-Claire wandte sich um, mit jener Bewegung, an der ich sie aus Hunderttausenden herausgefunden hätte, und ging mit der Schale aus dem Zimmer. Bis jetzt hatte ich den Grafen mit keinem Blick angesehen. Um so mehr fühlte ich, was mein Blick jetzt für ihn bedeutete. Endlich tat ich es. Ich fand seine Augen starr auf mich gerichtet, aber alsbald lebte ihr Ausdruck von Qual und Pein zur Freiheit auf. Er erkannte, daß ich gesehen hatte, aber nichts gesehen haben wollte. Er atmete auf. Er war meiner tiefsten Verschwiegenheit sicher. Offenbar erklärte er sich mein Benehmen – was mir gleichgültig war – aus dem Bestreben des Arztes, ein vornehmes Haus nicht verlieren zu wollen. Mich bewog vielmehr die Neugier des Beobachters zu meinem Verhalten. Ich wollte nach Haus und gelobte mir Schweigen. Durch mich sollte niemand etwas erfahren. Von jeher ist es mir das höchste Vergnügen, zu beobachten. Jetzt durfte ich dies heimliche Glück in vollen Zügen genießen, in diesem Erdenwinkel, diesem einsamen Schloß, wo ich als Arzt jederzeit Zutritt hatte.
Froh, seiner Besorgnis ledig zu sein, sagte Savigny zu mir: ›Ich bitte Sie, bis auf weiteres jeden Tag zu kommen.‹ Somit konnte ich das Geheimnis des Schlosses ungestört wie eine Krankheit ergründen. Ich fragte mich zunächst, um Licht in das Dunkel zu bringen, wie lange das Verhältnis wohl bestehen mochte. Seit Haute-Claires Verschwinden? War sie schon über ein Jahr Jungfer bei der Gräfin? Wie kam es, daß bisher kein Mensch erkannt hatte, was meine Augen sofort gemerkt?
Alle diese Fragen durchstürmten mich, als ich nach V*** zurückritt. Immer neue Gedanken gesellten sich hinzu. Graf und Gräfin Savigny, die einander anbeteten, wie es hieß, lebten ziemlich zurückgezogen. Schließlich aber kamen dann und wann Gäste. Waren es Herren, so brauchte sich Haute-Claire nicht sehen zu lassen. Und bei Damenbesuch? Die meisten Frauen der Stadt hatten sie, die jahrelang kaum aus ihrem Fechtsaal herausgekommen war, ja nur flüchtig gesehen, von weitem zu Pferd oder in der Messe. Und da hatte sie beständig ihren dichten blauen Schleier getragen. Mit Absicht? Sie gehört zu den ganz stolzen Menschen. Neugier verletzt sie. Sie werden immer undurchdringlicher, je mehr sie sich im Mittelpunkt der allgemeinen Betrachtung fühlen. Und die Dienerschaft, mit der sie wohl oder übel leben mußte, war wahrscheinlich nicht aus V***, sondern von anderswoher.
So beantwortete ich mir alle Fragen, die in mir aufstiegen. Und als ich zu Haus anlangte, da hatte ich einen Turm von mehr oder minder möglichen Vermutungen aufgerichtet. Ich wollte mir den Verhalt aufklären, der jedem Nichtgrübler unentwirrbar scheinen mußte. Eines freilich begriff ich gar nicht, nämlich, daß der Plan Haute-Claires, in der Gräfin Dienst zu treten, nicht an ihrer auffälligen Schönheit gescheitert war. Die Gräfin liebte ihren Mann, mußte also eifersüchtig sein. Indes waren die Aristokratinnen von V*** mindestens ungeheuer hochmütig. Figaros Hochzeit kannten sie nicht. Sie bildeten sich ein, ein hübsches Kammerkätzchen sei ihren Männern nicht mehr als ihnen der schönste Lakai. Zudem, sagte ich mir, als ich absaß, muß die Gräfin doch ihre Gründe haben, sich geliebt zu wähnen. Dieser Savigny ist ganz der Mann, sie in ihrem Wahn zu bestärken, wenn ihr je ein Zweifel käme.«
Ich konnte mich nicht enthalten, den Doktor bedenklich zu unterbrechen: »Das ist alles ganz gut und schön, nimmt aber der Sachlage nicht die Gefahr!«
»Allerdings nicht! Vielleicht hat aber gerade die Gefahr die ganze Lage erst geschaffen.« – Torty war ein großer Kenner der Menschenherzen. »Es gibt Leidenschaften, die erst durch die Gefahr erstehen und gedeihen, ohne sie nicht beständen oder verkümmerten. Im 16. Jahrhundert, im Zeitalter der starken Gefühle, war die Gefahr, die einer Liebe drohte, just die Mutter der großen Leidenschaften. Wenn man aus den Armen der Geliebten kam, lauerte hinter der Tür der Dolch. Oder es holte sich einer den Tod, indem er der Angebeteten verliebt den Muff küßte, den der Ehemann vergiftet hatte. Alles das schreckte aber nicht von der Liebe ab. Im Gegenteil, die beständige Gefahr stachelte sie an. Sie lohte und ward unwiderstehlich! In unserer nüchternen Zeit hat das Gesetz die Leidenschaft unterdrückt. Es bestraft den Ehebruch. Diese Gefahr ist unedel. Darum ist sie für höhere Menschen um so größer. Indem sich Savigny ihr aussetzte, empfand er vielleicht die Wollust der Gefahr, die starke Seelen berauscht.
Wie Sie sich denken können, begab ich mich am anderen Tage zeitig in das Schloß, aber ich bemerkte nicht das geringste. Es ging im Hause her wie in jedem anderen geordneten Hause. Die verkappte Haute- Ciaire erfüllte ihre Obliegenheiten als Dienerin so natürlich, als sei sie für diesen Beruf ausgebildet. Und auch das gräfliche Ehepaar gab mir keinen weiteren Aufschluß über das Geheimnis, das ich aufgespürt hatte.
So viel stand fest, daß Savigny und Haute-Claire eine freche Komödie spielten, mit einer Natürlichkeit und Vollendung, um die Berufsschauspieler sie hätten beneiden können. Und dieses Spiel war auf vorherige Verabredung begonnen worden. Eines anderen Umstandes war ich aber weniger gewiß, und das wollte ich zunächst erkunden. Ahnte die Gräfin wirklich nichts? Und, wenn dem so war, wie lange noch? Aus diesem Grunde wandte ich meine ganze Aufmerksamkeit ihr zu. Da sie krank war, wurde mir das nicht schwer. Ihre Krankheit machte sie sowieso zum Gegenstand meiner Beobachtungen.
Die Gräfin von Savigny war ein echtes Kind der Stadt V***. Es gab für sie nur eines, den Adel. Die übrige Welt war ihr keines Blickes wert. Dieser Standesdünkel war die einzige Leidenschaft der Damen von V***. Fräulein Delphine von Cantor war bei den Benediktinerinnen erzogen worden. Da sie nicht die Spur von wahrer Frömmigkeit in sich hatte, langweilte sie sich dort halb zu Tode. Dann langweilte sie sich zu Hause weiter, bis zu ihrer Verheiratung mit dem Grafen Savigny. Sie liebte ihn. Zum mindesten bildete sie sich das ein. Ein junges Mädchen, das sich langweilt, verliebt sich leicht in den ersten besten, der um sie wirbt. Die Gräfin war eine blasse Frau mit schlappem Fleisch, aber festen Knochen. Ihre milchweiße Haut war mit vielen winzigen Sommersprossen bedeckt, die dunkler als ihr rotblondes Haar waren. Wenn sie mir ihren wie bläuliche Perlmutter geäderten blassen Arm mit dem feinen rassigen Gelenk und dem trägen Pulsschlag reichte, machte sie mir jedesmal den Eindruck einer Dulderin, vom Schicksal bestimmt, als Opfer unter den Füßen einer anderen zertreten zu werden, der stolzen Haute-Claire, die sich vor ihr so weit erniedrigte, daß sie die Rolle ihrer Dienerin spielte. Nur widersprach diesem Eindruck, der sich mir beim ersten Anblick aufdrängte, ihr kräftig vorgeschobenes Kinn und ihre eigensinnige eckige Stirn unter dem glanzlosen Haar. Dieses Kinn in dem schmalen Gesichtchen erinnerte an das der Fulvia auf den römischen Münzen. Ich kam zu keinem Endurteil. Hier konnte der Fuß Haute-Claire sehr wohl straucheln.
Alles in allem schien es mir unmöglich, daß bei diesem Stand der Dinge dem Schloß seine jetzige Ruhe auf immerdar verblieb. Eines Tages mußte ein furchtbarer Sturm kommen. In Erwartung dieses Ereignisses verdoppelte ich meine Aufmerksamkeit bei der jungen Frau. Sie konnte ihrem Arzt nicht ewig ein Buch mit sieben Siegeln bleiben. Wem man sein leibliches Wohl anvertraut, dem öffnet man auch bald sein Herz. Die Gräfin mochte sich also noch so sehr winden und ihre Empfindungen und Gedanken in sich verschließen, eines Tages mußte ich den tiefsten Grund ihres Leidens von ihr selbst erfahren.
So dachte ich bei mir. Aber meine Voraussicht erfüllte sich nicht. Nach ein paar Tagen war ich überzeugt, daß sie nicht im geringsten ahnte, wie ihr Mann und Haute-Claire sie in der Stille und Verschwiegenheit des Hauses hintergingen. War sie blind? Kannte sie keine Eifersucht? Wie verhielt sich das? Im allgemeinen war sie hochmütig zurückhaltend gegen ihre Umwelt. Nur zu ihrem Mann nicht. Ihrer angeblichen Jungfer gegenüber benahm sie sich als gütige Herrin. Sie gab ihre Befehle in der knappsten Form, wie eben eine Dame, die an Gehorsam gewöhnt und dessen sicher ist. Nie erhob sie dabei ihre Stimme lauter denn nötig. Eulalia war eine treffliche Dienerin. Sie, die sich, ich weiß nicht wie, bei ihr eingeschlichen und eingeschmeichelt hatte, umhegte die Gräfin mit jener Sorglichkeit, die niemals die Grenze überschreitet, wo sie lästig wird. Bis in ihre kleinsten Dienstleistungen hinein offenbarte sie eine solche Geschmeidigkeit und ein so feines Verständnis für das Wesen ihrer Herrin, daß man ihre Klugheit und ihren Eifer genial nennen mußte.
Schließlich sprach ich einmal mit der Gräfin über ihre Jungfer. Wenn ich sie bei meinen Krankenbesuchen auf so unbefangene Weise um die Gräfin beschäftigt sah, rieselte mir jedesmal ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Mir war es, als sähe ich eine Schlange, die sich aufrollt und sich streckt und lautlos an das Lager eines schlummernden Weibes heranschleicht. Eines Abends bat die Gräfin ihre Zofe, ihr irgend etwas zu holen. Während sich Eulalia behenden Schritts entfernte, nahm ich diese Gelegenheit wahr, um ein Wort zu wagen, das mir vielleicht Aufklärung verschaffte.
›Die reinen Samtpfoten! Ihre Jungfer ist das Musterbild einer guten Dienerin. Erlauben Sie mir die Frage: woher haben Sie sie? Wohl aus V***.‹
›Ach ja, sie ist nicht übel‹, meinte die Gräfin nachlässig, während sie sich in einem kleinen Handspiegel besah, der einen Rahmen von grünem Samt mit einem Kranz von Pfauenfedern hatte. Sie sah gelangweilt hinein, ganz wie jemand, dessen Gedanken nicht bei seinen Worten sind. ›Ich bin recht zufrieden mit ihr. Aus V*** ist sie nicht. Woher sie aber ist–da fragen Sie mich zu viel, mein lieber Doktor. Wenden Sie sich an den Grafen, wenn Ihnen daran liegt, es zu wissen! Er hat sie mir kurze Zeit nach unserer Heirat besorgt. Als er sie mir vorstellte, hat er mir nur berichtet, daß sie vordem bei einer alten Verwandten von ihm gedient habe. Die Dame war gestorben und Eulalia stellenlos. Auf des Grafen Fürsprache hin habe ich sie angenommen.
Und ich bereue es nicht. Sie ist tadellos. Ich glaube, sie hat nicht einen Fehlern.‹
›Doch, Frau Gräfin!‹ fiel ich heuchlerisch-ernst ein. ›Ich kenne einen an ihr.‹
›So? Und der wäre?‹ kam es gedehnt-teilnahmslos von ihr, wobei sie ihre blassen Lippen weiter andächtig im Spiegel musterte.
›Sie ist zu schön! Viel zu schön für eine Kammerzofe! Eines Tages wird sie Ihnen entführt werden.‹
›Meinen Sie?‹ sagte sie, ebenso gedankenlos und abwesend wie vorher. ›Gewiß, Frau Gräfin. Vielleicht verliebt sich sogar ein hoher Herr in sie! Sie ist so schön, daß sie sogar einem Herzog den Kopf verdrehen könnte!‹
Ich maß meine Worte genau ab, während ich so meine Sonde ansetzte. Wenn ich jetzt nicht auf etwas Greifbares stieß, dann war nichts da.
›In V*** gibt es keinen Herzog‹, erwiderte die Gräfin. Ihre Stirn blieb so glatt wie das Spiegelglas in ihrer Hand. ›Im übrigen, lieber Doktor, lassen sich diese Mädchen nicht halten, wenn sie fort wollen, und wenn man sie noch so gut behandelt.‹ Sie glättete ihre Augenbrauen und fuhr fort: ›Eulalia hat eine angenehme Art, mich zu bedienen. Gleichwohl hüte ich mich, vertraulich mit ihr zu sein; denn, wenn es irgendwie darauf ankäme, fragt sie ebenso wenig wie jede andere darnach, ob ich sie gern habe.‹
Damit war das Kapitel Eulalia für jenen Tag abgetan. Die Gräfin war also vollständig ahnungslos! Wer wäre das nicht auch gewesen? Ich selbst, der ich sie im ersten Augenblick als die Haute-Claire vom Fechtboden erkannt hatte, ich selbst geriet zuweilen in die Versuchung, an die Eulalia zu glauben.
Savigny fand sich mit seiner Rolle bei weitem nicht so leicht, gefällig und ungezwungen ab wie Haute-Claire, obgleich für ihn das Spiel viel einfacher war. Sie aber bewegte sich in ihrem Lügennetz wie der munterste Fisch im Wasser. Ganz gewiß hatte sie ihn lieb und über alles lieb, denn sonst hätte sie wohl ihre einzigartige Stellung nicht aufgegeben, die ihre Eitelkeit befriedigen mußte, weil sie Augen einer ganzen Stadt – für sie die Welt – auf sie richtete. Einmal hätte sie sicherlich unter ihren zahlreichen Bewunderern und Verehrern den Mann finden können, der sie aus Liebe heiratete und ihr die Kreise öffnete, aus denen sie bis dahin nur die Herren kannte. Alles in allem war Savignys Einsatz bei dem Spiel geringer denn der ihre. Sie brachte das größere Opfer. Sein Mannesstolz mußte darunter leiden, daß er seiner Geliebten nicht die Demütigung einer ihrer unwürdigen Stellung zu ersparen vermochte. Darin lag übrigens eine Unstimmigkeit mit der Heißblütigkeit, die man ihm nachsagte. Wenn er Haute-Claire wirklich so leidenschaftlich liebte, daß er ihr seine junge Gattin opferte, dann hätte er sie entführen und in Italien mit ihr leben können. Dergleichen kam schon damals nicht selten vor. Er hätte damit das würdelose Versteckspiel des Doppellebens umgangen. Sollte er gar der weniger liebende Teil sein? Ließ er sich etwa von Haute-Claire lieben, viel mehr als er sie liebte? Oder hatte sie sich auf eigene Faust in seine unmittelbare Nähe gedrängt? Und er fand die Sache keck und reizvoll und ließ es zu? Was ich zwischen Savigny und Haute-Claire wahrnahm, gab mir nur wenig Aufschluß. Daß sie gemeinsame Sünder waren, das stand bei mir fest. Welcher Art aber ihre gegenseitigen Gefühle waren, ihr genaues Verhältnis zueinander, das blieb in diesem Seelenrätsel der dunkle Punkt, den ich zu beleuchten trachtete. Savigny benahm sich gegen seine Frau durchaus einwandfrei. Wenn Haute- Claire anwesend war, beobachtete ich ihn auf das schärfste und entdeckte eine gewisse Unsicherheit in seinem Verhalten, die mir nicht gerade Seelenruhe verriet. Wenn er – zum Beispiel – Haute-Claire, wie es das Einerlei des Alltags mit sich bringt, um ein Buch, eine Zeitung oder sonst etwas bat, so hatte er beim Empfang dieser Dinge eine so merkwürdige Art, daß sie jeder anderen Frau als dem harmlosen ehemaligen Klosterfräulein alles verraten hätte. Ich gewahrte, wie er es beinahe vermied, der Hand Haute-Claires zu begegnen, gleichsam als wäre es ihm bei einer zufälligen Berührung unmöglich, sie nicht festzuhalten.
Haute-Claire ihrerseits war völlig frei von jedweder Verwirrung und überängstlichen Vorsicht. Sie war eine Verführerin wie alle Frauen. Vor ihnen wäre der liebe Gott im Himmel nicht sicher, wenn es einen gäbe, und ebensowenig der Teufel in seiner Hölle! Bisweilen spielte sie sichtlich mit dem Mannessinn und der Gefahr. Einmal, als mein Besuch in die Mittagsstunde fiel, bediente sie während der Mahlzeit, die Savigny getreulich am Bett seiner Frau einnahm. Die anderen Dienstboten betraten das Gemach der Gräfin nicht. Um die Schüsseln auf den Tisch zu setzen, mußte sie sich über Savignys Schulter neigen. Ich ertappte sie, wie sie dabei des Grafen Ohr mit ihrer Brust streichelte. Er ward ganz blaß und sah auf seine Frau, ob sie es bemerkte. Zum Kuckuck! Ich war damals noch in den Jahren, wo man in der Befriedigung der Sinne den ganzen Sinn des Lebens sucht. Ich malte mir in meiner Vorstellung den köstlichen Reiz aus, der in dieser heimlichen und gefährlichen Liebschaft vor den Augen einer betrogenen Frau liegen mußte.
Ich wartete auf den Wendepunkt, auf den Umschwung, der meiner Ansicht nach unvermeidlich war. Bis dahin hatte ich von dem Roman der beiden nur Savignys Erblassen und seine ängstliche Unruhe gesehen. Wie das Rätsel der Sphinx ging mir das nicht aus dem Kopf. Es beherrschte mich so stark, daß ich zu spionieren anfing. Das ist der Auswuchs des Beobachtens. Starke Leidenschaften verderben einen. Um zu ergründen, was ich wissen wollte, erlaubte ich mir allerlei kleine Gemeinheiten, die meiner selbst unwürdig waren, das wußte ich, aber trotz alledem beging ich sie. Ja, ja, Verehrtester, Liebhabereien sind Schwächen! Ich war der meinen verfallen.
Bei meinen Krankenbesuchen auf dem Schloß fragte ich, wenn ich den Gaul am Stall abgab, die Dienerschaft so geschickt über ihre Herrschaft aus, daß sie es gar nicht merkten. Ich spionierte also; anders kann man das nicht nennen. Die Leute hatten indessen ebensowenig eine Ahnung von der Geschichte wie die Gräfin. Sie hielten Haute-Claire allesamt für ihresgleichen. Es sah also aus, als sollte meine schöne Hoffnung auf Befriedigung völlig zuschanden werden. Da kam ein Ereignis, das alle meine Vermutungen weit übertraf und mir einen größeren Einblick in das Geheimnis gewährte als meine ganze bisherige Herumschnüffelei.
Seit acht Wochen besuchte ich die Gräfin, ohne daß sich ihr Zustand besserte. Mehr und mehr machten sich die Anzeichen der Bleichsucht erkennbar. Savigny und Haute-Claire spielten ihre schwierigen Rollen in gleicher Meisterlichkeit weiter, ohne sich durch meine Gegenwart darin stören zu lassen. Nur schien es mir, als seien die beiden Spieler ein wenig matt geworden. Serion war abgemagert. Ich hörte, wie man in V*** sagte: ›Was für ein guter Ehemann der Savigny doch ist! Er sieht schon ganz mitgenommen aus durch die Krankheit seiner Frau! Wundervoll, wenn zwei sich so lieben !‹
Haute-Claire, diese marmorne Schönheit, hatte Schatten unter den Augen. Nicht so, wie man sie vom Weinen bekommt. Denn ihre Augen haben sicherlich ihr Lebtag nicht geweint. Sie hatten Ränder, die von durchwachten Nächten reden. Um so glühender blitzten die Augen aus dem dunklen Rahmen. Übrigens konnten Savignys Magerkeit und Haute-Claires umschattete Augen tausenderlei Ursachen haben. Die beiden lebten doch auf einem Vulkan. Ich beobachtete alle verräterischen Zeichen auf ihren Gesichtern, suchte sie zu deuten und war meist um die Antwort verlegen.
Einmal kam ich von meinem Besuchsgang erst am späten Abend nach Savigny. Eine Wöchnerin in der Stadt hatte mich allzulange aufgehalten. Wie ich am Schlosse eintraf, war es längst zu spät für einen Besuch. Welche Zeit es war, wußte ich nicht; meine Uhr war stehengeblieben. Nach dem Stand des Mondes mußte Mitternacht vorüber sein. Die Sichel herührte mit ihrem unteren Rand beinahe die hohen Tannen von Savigny, hinter denen sie bald versinken mußte ...
Waren Sie öfters in Savigny?« unterbrach sich der Doktor selber, indem er sich plötzlich zu mir hinwandte.
»Jawohl.«
»So! Dann wissen Sie also auch, daß man durch das Tannengehölz und die Schloßmauer entlanggehen muß, wenn man auf dem kürzesten Weg nach V*** will. Wie ich im Dunkel des Gehölzes bin – kein Licht, kein Laut! –, da trifft mit einem Male doch ein sonderbarer Klang mein Ohr, den ich mir zunächst gar nicht erklären konnte. Erst wie ich dem Schloß näher kam, ward mir der Ursprung des Geräusches erkennbar. Es war das Klirren sich kreuzender, kämpfender, einander streifender Waffen. Sie wissen, wie deutlich man in der Stille der dünnen Nachtluft jeden Klang vernimmt. Die leisesten Laute verstärken sich merkwürdig. Mein Ohr hatte mich nicht betrogen. Ein lebhaftes Florettfechten war hörbar. Als ich nun an den Waldrand hinauskam, lag das Schloß im bleichen Mondlicht vor mir. Ein Fenster stand offen. In den waagerechten Lücken der Läden der Balkontür daneben schimmerten Lichtstreifen. Es war ein warmer Juliabend. Aha! dachte ich. Also immer noch die alte Liebe! Ich war mir nicht im Zweifel, daß Serion und Haute-Claire die beiden waren, die nächtlicherweile miteinander fochten. Man hörte klar und deutlich die Klingen, als sähe man sie, und das Aufstampfen der ausfallenden Fechter. Es war in dem Eckturm, der von allen vieren am weitesten von den Gemächern der Gräfin entfernt lag. Das schlafende Schloß, das so still und weiß im Mondenschimmer stand, war wie ausgestorben. Überall Schweigen und Dunkel. Nur in dem entlegenen Turm war Licht und Leben.
Ich parierte meinen Gaul am Rande des Gehölzes zum Halten und lauschte dem lebhaften Waffengang. Dieser seltsame Kampf eines Liebespaares fesselte mich stark. So hatten sie sich ehedem geliebt, und so liebten sie sich noch immer. Auf einmal ward es still. Ein Stoß gegen die Läden, und die Balkontür stand offen. Ich hatte gerade so viel Zeit, mein Pferd in den dunkeln Tann zurückzureißen. Sonst wäre ich in der lichten Nacht bemerkt worden. Serion und Haute-Claire kamen auf den Balkon heraus und traten an das Geländer. Ich sah sie haarscharf. Der Mond war hinter dem Gehölz versunken, aber die Umrisse der beiden hoben sich klar ab gegen das Licht eines Armleuchters, der seinen Schein aus dem Zimmer in das Dunkel warf. Haute-Claire trug die Tracht, in der ich sie in ihrem Fechtsaal so viele Male gesehen hatte: ein knappsitzendes Wams aus Gemsleder, das sie wie ein Panzer umschloß, und ein seidenes Trikot, das ihre schönen Formen liebkoste. Savigny war ganz ähnlich angezogen. Schlank und kraftvoll wie die Verkörperung der Jugend und Gesundheit stand das Paar vor dem erleuchteten Hintergrund in ihren enganliegenden Kleidern, wie nackt. Sie redeten miteinander, über das Geländer gebeugt, aber leise, so daß ich ihre Worte nicht verstand. Ihre Haltung verriet mir aber, was sie sagten. Auf einmal schlang Savigny in leidenschaftlicher Wallung den Arm um den Amazonenleib zu seiner Seite, der für allen Widerstand geschaffen schien und der nicht widerstrebte. Im Gegenteil, beinahe im selben Augenblick warf die stolze Haute-Claire ihre Arme um seinen Hals und drückte sich an ihn. So bildeten sie eine Wiederholung der berühmten Liebesgruppe von Canova, die jedermann kennt. Mund auf Mund gepreßt küßten sie sich. Endlich gingen die beiden in das Zimmer zurück, noch immer umschlungen. Schwer wallten dunkle Vorhänge hinter ihnen nieder. Ich wagte mich aus dem Gehölz heraus.
Bald wird der Tag kommen, sagte ich mir, an dem die beiden mehr zu verbergen haben als bloß sich selber. Einmal nach solch einer Nacht werden sie mir beichten. Als Arzt zog ich diese Folgerung, nachdem sich mir ihre Verliebtheit, ihre Liebkosungen, soviel verraten hatten. Meine Voraussage ist allerdings am Feuer dieser leidenschaftlichen Menschen zuschanden geworden. Solche Leute bekommen keine Kinder. Anderntags ritt ich nach dem Schloß. Haute-Claire war wieder Eulalia. Sie saß in dem langen Gang vor dem Zimmer der Gräfin in einer Fensternische. Auf einem Stuhl hatte sie einen Haufen Wäsche neben sich zum Nähen und Ausbessern. Die nächtliche Fechterin bei solcher Tagesbeschäftigung! Meinen Schritt kannte sie so genau, daß sie nicht einmal den Kopf hob, um aufzusehen, wer kam. Sie hielt ihn auf ihre Arbeit gesenkt unter der steifen Batisthaube, dem Kopfputz der Normandie, den sie zuweilen trug. Meinen Augen bot sich nur der weiche Nacken, auf dem sich Löckchen kräuselten und lose Begierden weckten. Alles Animalische an dieser Frau ist prachtvoll. Wenige nur besitzen diese Art Schönheit in höherem Maß.
So saß sie meist, wenn ich an ihr vorüberkam. An jenem Tage mußte sie sich aber dazu verstehen, mir ihr Gesicht zu zeigen. Die Gräfin klingelte ihr nämlich, weil ich Tinte und Papier für ein Rezept brauchte. Sie kam. An ihrem Finger saß noch der stählerne Fingerhut. Sie hatte sich nicht die Zeit genommen, ihn abzustreifen. Die eingefädelte Nadel hatte sie an ihren verlockenden Busen gesteckt.
Während ich schrieb, blieb sie vor mir stehen und hielt mir das Schreibzeug mit einer lässigen Bewegung der Unterarme, die mit ihrer Fechtkunst verwandt war. Als ich fertig war, schaute ich ihr in die Augen. Ihr Gesichtsausdruck war müd. In diesem Augenblick kam Savigny in das Zimmer. Er sah noch viel schlaffer aus. Er redete mich an und sprach über den Zustand der Gräfin, die nicht genesen wollte, wie einer, dem die Genesung zu langsam geht. Es sprach ein bitterer heftiger Ton der Ungeduld aus ihm. Während er redete, ging er auf und ab. Ich sah ihn gelassen an. Dieses Benehmen ärgerte mich. Ich dachte bei mir: Wenn ich dir deine Frau kuriere, ist es aus mit eurer nächtlichen Fechterei! Offenbar hatte er allen Sinn für die Wirklichkeit verloren. Ich war nahe daran, ihm ordentlich Bescheid zu geben, begnügte mich aber doch lieber damit, ihn mir nur anzusehen. Das war denn doch der Gipfel der Schauspielerei!«
Wiederum hielt der Erzähler inne und genehmigte umständlich eine Prise. Dann fuhr er fort:
»Er war also höllisch ungeduldig. Aber nicht etwa, weil seine betrogene Frau nicht wieder gesund wurde. Das regte ihn gewiß nicht auf. Er hatte ja seine Liebste im Hause. Die Genesung konnte ihm seine Liaison dangereuse nur erschweren. Gleichwohl ging ihm die Endlosigkeit der Krankheit offenbar auf die Nerven. Er hatte mit einem Ende gerechnet. Der Zeitpunkt, wo ihm oder seiner Geliebten oder vielleicht allen beiden zugleich der Gedanke kam, einzugreifen, weil die Krankheit oder der Arzt versagten, der war wohl zu dieser Stunde.«
»Torty, wollen Sie damit sagen...?« Ich ließ meine Frage unausgesprochen. Die Andeutung hatte mich ergriffen. Er nickte mit dem Kopf und sah mich schicksalsschwer an, wie der steinerne Marschall, indem er Don Juans Einladung zum Nachtmahl annimmt.
»Ja!« gab er langsam und leise zur Antwort. »Wenigstens lief ein paar Tage später die Schreckenskunde durch das Land, die Gräfin wäre an Gift gestorben.«
»An Gift!«
»Ihre Kammerjungfer Eulalia hatte sich in der Flasche versehen und ihrer Herrin anstatt der verschriebenen Arznei Doppeltinte gegeben. Solch ein Irrtum ist nicht unmöglich. Nur wußte ich, daß Eulalia und Haute-Claire eins war. Und ich hatte das Paar als Canova-Gruppe gesehen, damals auf dem Balkon am Turmzimmer. Die Welt wußte davon nichts. Man hatte allgemein zunächst nur den Eindruck eines gräßlichen Unglücks. Zwei Jahre später allerdings, als man erfuhr, daß der Graf von Savigny ›die Stassin‹ geheiratet hatte – es war natürlich längst herausgekommen, wer die falsche Eulalia gewesen war! –, da begannen wie dumpfes Donnergrollen die Verdächtigungen, im Flüsterton, als fürchte man sich, das auszusprechen, was man argwöhnte. Im Grunde wußte nämlich keiner etwas Bestimmtes. Schließlich genügte die Tatsache der unglaublichen Mißheirat, daß man den Grafen von Savigny mied. Und das ist so geblieben bis auf den heutigen Tag. Das Geflüster über den Verdacht schlief schließlich ein. Einen Wisser gab es aber, der seiner Sache sicher war ...«
»Das waren Sie natürlich, Doktor!«
»Allerdings. Aber es hatte noch einen zweiten gegeben, ohne den mein Wissen nur vag geblieben wäre, schlimmer mithin als Garnichtswissen. Ich hätte niemals Sicherheit gewonnen, und die habe ich. Hören Sie nun, wie ich dazu kam!
Selbstverständlich erfuhr ich als erster von der Vergiftung der Gräfin. Mich, den Arzt, mußten die beiden Schuldigen oder Nichtschuldigen wohl oder übel sofort holen lassen. Man ließ dem Stallknecht nicht einmal die Zeit, sein Pferd zu satteln. Ohne Sattel, in rasendem Galopp kam er in V*** an. Im Galopp ging es zurück nach Schloß Savigny. Trotzdem kam ich zu spät.
Savigny empfing mich verstört am Tor. Während ich absaß, erzählte er mir mit einer Stimme, die sich merklich vor den eigenen Worten fürchtete: ›Die Jungfer hat sich versehen ...‹ Er vermied den Namen Eulalia, den am nächsten Tag schon alle Welt im Munde haben sollte. ›Aber sagen Sie, lieber Doktor, Doppeltinte ist doch kein Gift?‹
›Je nachdem !‹ erwiderte ich. ›Es kommt auf ihre Bestandteile an.‹
Er führte mich zur Gräfin. Sie war erschöpft vor Schmerzen. Ihr verzerrtes Gesicht sah aus wie ein weißer Garnknäuel, der in grüne Farbe gefallen war. Schrecklich. Ihr Lächeln mit den schwarzen Lippen war gräßlich anzusehen. Es schien mir, als wollte sie mir sagen: Ich weiß, was du denkst.
Mit halbem Blick spähte ich nach Eulalia. Ich hätte in diesem Augenblick ihr Gesicht zu gern gesehen. Sie war nicht da. Hatte sie bei all ihrem Mut doch Angst vor mir? Zuvörderst hegte ich nur eine unsichere Vermutung. Als ich eintrat, richtete sich die Gräfin mit vieler Anstrengung ein wenig auf.
›Da sind Sie ja, verehrter Doktor! Es ist zu spät. Ich gehöre zu den Toten ...‹ Und zum Grafen gewandt fuhr sie fort: ›Du hättest lieber nach dem Pfarrer schicken sollen, Serion, nicht zum Arzt! Ich bitte dich, laß ihn rasch noch holen und gib Befehl, daß uns jetzt niemand stört. Ich will ein wenig mit dem Herrn Doktor allein sein.‹
Noch nie hatte ich solch ein ›Ich will‹ von ihr gehört. Ihr Kinn und ihre Stirn hatten also Berechtigung.
»Soll ich auch draußen bleiben ?‹ fragte Savigny matt.
›Auch du, mein Lieber!‹ erwiderte sie, und fast zärtlich setzte sie hinzu: ›Du weißt, wie sehr sich Frauen gerade vor denen schämen, die sie lieb haben.‹ Kaum war er fort, da ging eine gräßliche Veränderung mit der Gräfin vor. Die sanfte Zärtlichkeit schlug um in wilde Wut.
›Doktor‹, keuchte sie mit haßerfüllter Stimme, ›mein Tod ist kein Zufall. Ein Verbrechen tilgt mich aus dieser Welt. Serlon liebt Eulalia, und sie hat mich vergiftet. Damals glaubte ich Ihnen nicht, als Sie meinten, sie sei zu schön für eine Jungfer. Das war töricht von mir. Er liebt die Elende, diese Verbrecherin, die mich mordet. Er ist der Schuldigere von beiden, weil er sie liebt und mich mit ihr betrogen hat. Seit ein paar Tagen habe ich alles durchschaut, an den Blicken, die sie über meinem Bett miteinander tauschen. Und dann kam dieses abscheuliche Gift! Ich schmeckte es sofort. Aber ich habe es trotzdem ausgetrunken, bis auf den letzten Tropfen. Denn ich mag nicht mehr leben. Reden Sie nicht von Gegengift! Ich will keins. Ich will sterben.‹
›Dann hätte man mich nicht erst holen lassen sollen, Frau Gräfin‹, erklärte ich.
›Doch‹, hauchte sie. ›Ich wollte Ihnen sagen, daß sie mich vergiftet haben. Und Sie sollen mir Ihr Ehrenwort geben, daß Sie nie einen Verdacht aussprechen. Es gäbe ein fürchterliches Gerede. Das will ich nicht. Sie sind mein Arzt. Man wird Ihnen glauben, wenn auch Sie von einem Versehen reden, mit dem die beiden die Tat bemänteln. Und fügen Sie noch hinzu, daß ich vielleicht zu retten gewesen wäre ohne die lange Krankheit, die meine Widerstandskraft zuvor gebrochen hat. Das müssen Sie mir schwören, lieber Doktor!‹
Ich sagte nichts. Sie erriet meine Gedanken. Ich war nämlich des Glaubens, sie wolle den Grafen schonen. Das erschien mir natürlich; es gibt solche Frauen, deren Liebe und Selbstlosigkeit so tief sind, daß sie selbst den Tod ohne den leisesten Wunsch nach Vergeltung hinnehmen. Allerdings hatte mir die Gräfin von Savigny bisher nicht den Eindruck gemacht, als gehöre sie zu diesen Frauen.
›Was Sie vermuten, das ist es nicht, was mich veranlaßt, Sie um Ihre Verschwiegenheit zu bitten. Ich hasse Savigny, und ich liebe ihn noch. Aber so schlapp bin ich nicht, daß ich dem Verräter vergebe. Unversöhnlich werde ich von ihm scheiden. Aber das ist eine rein persönliche Sache. Ich habe noch andere Rücksichten zu nehmen...‹ Die Kraft ihrer Worte enthüllte mir eine Seite ihres Wesens, die ich wohl geahnt, aber nicht recht ermessen hatte.
›Ich will nicht, daß ein Graf von Savigny nach dem Tode seiner Frau für ihren Mörder gilt. Ich will nicht, daß ein Savigny vor Gericht geschleppt wird als Spießgeselle einer schamlosen Giftmischerin. Ich will nicht, daß ein solcher Schandfleck den guten alten Namen Savigny besudelt, der auch mein Name war. Darum handelt es sich! Nicht um ihn. Er hat den Galgen verdient. Es steht Höheres auf dem Spiel. Eins bedauere ich. Daß die schönen Zeiten vorüber sind, in denen man diese Eulalia in ein Kellerloch geworfen hätte, ohne weiter ein Wort zu verlieren. Aber der Adel hat seine alte Macht nicht mehr. Da ich diese Rache nicht nehmen kann, verzichte ich auf jede andere ...‹
Sie redete klar und bestimmt, trotz des Krampfes ihrer Kiefer.
Ich hatte eine echte Aristokratin der alten Art vor mir.
Tiefer ergriffen, als es einem Arzt geziemt, versprach ich ihr mit einem Schwur, ihren Wunsch zu erfüllen, wenn es mir nicht gelänge, sie noch zu retten.
Ich hielt mein Wort. Gerettet habe ich sie nicht. Ich konnte es nicht; sie verweigerte jedes Gegenmittel.
Als sie tot war, erfüllte ich ihren Letzten Willen und beruhigte die erregten Gemüter. Seitdem sind an die fünfundzwanzig Jahre verflossen. Längst liegt Ruhe, Schweigen, Vergessenheit über der grauenhaften Begebenheit.
Sie sind der erste, dem ich ein Wort von dieser dunklen Geschichte erzähle. Schuld an meiner heutigen Redseligkeit ist allein die Begegnung vorhin. Eine seltsame Fügung des Schicksals, daß die beiden immer noch schönen, glücklichen, leidenschaftlichen, unzertrennlichen Geschöpfe an uns vorübergingen. Die Zeit und das Verbrechen haben ihnen nichts anzutun vermocht. Herrlich wie durch diesen Garten schreiten sie durch das Leben, gleich Wesen, die über dem Irdischen schweben.«
Ich war entsetzt. »Wenn sie wirklich so glücklich sind«, wandte ich ein, »wie Sie mir sagen, so wäre dies ein gräßlicher Widerspruch der Schöpfung.«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht!« entgegnete mir der freigeistige Arzt voller Seelenruhe. »Tatsache ist, daß dieses Glück besteht. Die beiden sind die glücklichsten Menschen. Ich bin alt. Mir ist viel fremdes Glück begegnet. Keins war von Dauer. Nur dieses währt bis heute.
Sie dürfen es mir glauben, daß ich gesucht, geprüft und geforscht habe, um die Kehrseite dieses Wunders zu entdecken. Ich habe das Dasein der beiden weiterhin im Auge behalten, in der Meinung, dies empörende Glück müsse in einem geheimen Winkel einen Riß haben, sei er noch so winzig. Ich habe ihn nicht gefunden. Wir stehen vor einem wundervollen Hohn des Teufels gegen Gott. Das heißt, wenn es die beiden gäbe.
Nach dem Tode der Gräfin verblieb ich auf gutem Fuß mit dem Grafen. Da ich die Fabel, die den Giftmord bemäntelte, bestätigt hatte, so hatten sie keinen Grund, mich fernzuhalten. Mir wiederum lag alles daran, die Fortsetzung der Geschichte aus der Nähe zu erleben. Mir schauderte vor den beiden; aber ich überwand mein Grauen.
Zunächst kam nach der Sitte des Landes eine Trauerzeit von zwei Jahren. Savigny benahm sich in dieser Zeit seinem früheren Ruf gemäß, demzufolge er das Muster eines Ehrenmannes gewesen sein sollte. Er verkehrte mit keinem Menschen, sondern verbrachte die Zeit in klösterlicher Einsamkeit auf seinem Schloß. Damals kümmerte sich noch niemand darum, daß Eulalia, die ›unschuldige‹ Ursache des Todes der Gräfin, weiterhin im Schloß blieb. Es hätte sich wohl gehört, daß der Graf gerade sie sofort entlassen hätte, selbst wenn sie schuldlos war. Daß er die Unklugheit beging, sie im Hause zu behalten, war mir ein Beweis für seine mir bekannte unsinnige Leidenschaft. So war ich im Grunde nicht sonderlich erstaunt, als ich von einem Diener des Schlosses gelegentlich erfuhr, daß die Eulalia noch immer da sei. Er berichtete dies so gleichgültig, daß ich daraus ersah: unter den Leuten im Schloß ahnte keiner, daß sie des Grafen Geliebte war. Also spielten sie noch immer ihre Komödie! Warum gingen sie nicht in das Ausland? Er war reich. Er konnte überall im großen Stil leben. Warum machte er sich mit dieser Hexe nicht aus dem Staub?
Die Gründe, daß sie dies nicht getan haben, sind mir noch heute unerschlossen.
Daß die beiden, die ihre Wahlverwandtschaft vom ersten Augenblick des Sich-Sehens triebmäßig erkannt hatten, ihre Verbindung fortsetzen würden, daran hätte ich nicht einen Augenblick gezweifelt, war ich doch Zeuge gewesen, wie sie die Gräfin betrogen hatten. An eine Ehe aber zwischen den beiden dachte ich keineswegs.
Um so größer war meine Überraschung, als ich nach zwei Jahren die vollendete Tatsache erfuhr. Es ging mir nicht allein so. Alle Welt war aufgebracht. Die gute Gesellschaft kläffte vor Wut wie eine Meute ausgesperrter Hunde.
Übrigens war ich während der beiden Trauerjahre, die Serion so streng hielt – was man ihm, wie alles an den Tag kam, als Heuchelei und Gemeinheit anrechnete –, nur selten in Savigny. Was hatte ich dort zu schaffen? Man befand sich wohl und bedurfte meiner Dienste nicht. Dennoch machte ich dem Grafen hin und wieder einen Besuch, aus Höflichkeit und mehr noch aus Neugier. Serion empfing mich, wie es sich fügte, bald hier, bald da, wo er gerade verweilte. Ich merkte ihm keine Verlegenheit an. Er war der liebenswürdige Weltmann, ganz wie einst. Nur ernst war er. Das hatte ich schon oft im Leben beobachtet: glückliche Menschen sind ernst. Behutsam tragen sie ihr Herz vor sich *her wie ein volles Glas, das bei der leisesten Erschütterung überfließen oder entzweigehen kann. Trotz dieses Ernstes und seiner dunklen Kleidung wohnte in seinen Augen grenzenlose Glückseligkeit. Es war nicht mehr jener Ausdruck der Erleichterung und Befreiung, der damals drinnen aufging, als ich am Lager seiner kranken Frau Haute- Claire erkannte und ihm stumm meine Verschwiegenheit gelobte. Nein. Jetzt war es echtes hohes Glück. Zwar plauderten wir bei diesen förmlichen kurzen Besuchen nur von nebensächlichen Dingen. Aber des Grafen Stimme klang nicht mehr wie zu Lebzeiten seiner Frau. Sie war voll und warm geworden. Sie verriet ein starkes Innenleben.
Ehe ich auch Haute-Claire begegnete, verging geraume Zeit. Sie saß nicht mehr mit ihrer Arbeit in der Fensternische, wenn ich den Gang entlang kam. Wohl lagen manchmal ein Bündel Wäsche an ihrem alten Platz, und Schere, Fingerhut und Nähkistchen auf dem Fensterbrett. Verriet das nicht, daß sie noch immer hier arbeitete und ihren Sitz nur verlassen hatte, weil sie mich kommen gehört? Schon vermeinte ich, sie fürchte sich vor meinem forschenden Blick. Den brauchte sie nicht mehr zu scheuen! Wußte sie doch nichts von der gräßlichen Enthüllung, die mir die Gräfin vor ihrem Tode gemacht hatte. Unerschrocken und stolz wie Haute-Claire war, mußte sie eine gewisse Befriedigung darin finden, meinem Forscherblick die Stirn zu bieten. So war es tatsächlich. Schließlich traf ich sie und fand in ihrem Antlitz ein so strahlendes Glück, daß eine ganze Flasche Doppeltinte es nicht ausgelöscht hätte.
Es war auf der großen Schloßtreppe, wo ich ihr zum ersten Male wieder begegnete. Sie kam herunter, ich stieg hinauf. Als sie mich gewahrte, verlangsamte sie ihren ziemlich raschen Schritt. Offenbar wollte sie mir Gelegenheit geben, ihr in das Gesicht zu schauen, in ihre Augen, vor denen sich wohl Pantheraugen schließen, nicht aber die meinen. Wie sie so die Stufen herunterschritt, wehten ihre Röcke um sie und hinter ihr drein, und es war, als schwebe sie vom Himmel hernieder. Überirdisches Glück umfloß sie, zehntausendmal erhabener als das Glück in Serlons Angesicht. Trotzdem ging ich ohne Gruß an ihr vorüber. Mag Ludwig der Vierzehnte jede Kammerzofe auf den Treppen gegrüßt haben! Das waren ja keine Giftmischerinnen! Übrigens war sie an jenem Tage noch als Kammerjungfer gekleidet, mit weißer Schürze. Aber das Unpersönliche der Dienerin war glückhaftem Herrinnenstolz gewichen. Jener Ausdruck ist ihr verblieben. Ich habe ihn vorhin wiedergesehen. Er wird Ihnen auch aufgefallen sein. Er tritt mehr hervor an ihr als selbst die Schönheit ihres Gesichts. So sind sie beide höhere Wesen im Glanz ihrer frohlockenden Überlegenheit. Serlon hatte diesen sonnigen Ausdruck früher nicht. Er hat ihn von ihr. Nach zwanzig Jahren ist er noch da. Er verblaßt oder umwölkt sich keinen Augenblick in den Zügen dieser beiden seltenen Lieblinge des Lebens. Diesen Ausdruck haben sie allem Ungemach siegreich entgegenleuchten lassen: der gesellschaftlichen Acht, dem bösen Gerede, der allgemeinen Anklage. Wer ihnen begegnet und sie anschaut, hält das Verbrechen, dessen man sie beschuldigt hat, für abscheuliche Verleumdung.«
»Doch Ihnen, Doktor«, unterbrach ich ihn, »der Sie alles wissen, Ihnen kann der Schein nichts vormachen. Aber Sie sind den beiden nicht überallhin gefolgt. Sie haben sie nicht zu jeder Stunde gesehen.«
Spöttisch, aber tiefsinnig antwortete mir Torty: »Ich bin überzeugt, auch in ihrem Schlafzimmer zur Nacht geht ihnen die Sonne ihres Glückes nicht verloren. Dahin bin ich ihnen nicht gefolgt. Sonst habe ich sie überall und jederzeit beobachtet, seit ihrer Hochzeit, die sie, ich weiß nicht wo, gefeiert haben, um dem Hallo der Leute von V*** zu entgehen, wo Volk und Adel, jedes in seiner Weise empört war. Nach ihrer Rückkehr als Vermählte war sie die rechtmäßige Gräfin von Savigny, er aber verfemt, weil er eine Dienerin geheiratet hatte. Man tat das Schloß Savigny in Acht und Bann und schnitt das Paar. Man überließ sie sich selber. Mochten sie einander auffressen, bis sie sich sattkriegten! Aber sie haben sich nicht satt bekommen, wie jedermann immer von neuem sehen kann. Mich, als Arzt und Liebhaber menschlicher Merkwürdigkeiten, mich fesseln natürlich diese beiden – Ungeheuer. Das ist der Grund, warum ich nicht zu denen gehöre, die von den Savignys nichts wissen wollen. Als ich der zur Gräfin verwandelten Zofe meinen Besuch machte, war sie in der Tat vom Scheitel bis zur Sohle die Gräfin, als sei sie niemals etwas anderes gewesen. So empfing sie mich. Sie scherte sich den Teufel darum, daß ich sie in weißer Schürze, den Besuchskartenteller in der Hand, im Gedächtnis haben mochte. ›Jetzt bin ich nicht mehr die Eulalia‹, sagte sie mir in ihrer stolzen Haltung, ›sondern Haute-Claire. Und Haute-Claire ist glücklich, daß sie ihm zuliebe die Eulalia gewesen ist.‹
Ich dachte daran, daß sie noch ganz was anderes war. Übrigens war ich der einzige, der so wenig Ehrgefühl besaß, das Paar nach seiner Heimkehr im Schloß aufzusuchen. Mit der Zeit ging ich sogar sehr oft hin. Sie dürfen es mir glauben, daß ich voller Eifer fortfuhr, das Zusammenleben der beiden zu belauern und zu erforschen, die in ihrem Bund so voll des Glückes waren. Ja, Sie mögen mir nun glauben oder nicht, ich habe dieses lichte Glück, das, wie ich so genau weiß, auf ein dunkles Verbrechen begründet war, nicht einen einzigen Augenblick getrübt oder auch bloß beschattet gesehen.
Ist das nicht eine Ohrfeige für alle Sittenprediger, die das schöne Gesetz vom bestraften Laster und der belohnten Tugend erfunden haben? Jene beiden waren geächtet und lebten einsam. Nur von mir wurden sie besucht. Und vor mir, dem zum Hausfreund gewordenen Arzt, legten sie sich keinerlei Zwang auf. Sie vergaßen meine Gegenwart und lebten dabei im Rausch ihrer Leidenschaft, der ich nichts Ähnliches von allem, was ich erlebt und erfahren, an die Seite stellen kann. Sie haben soeben eine kleine Probe davon selbst gesehen; sie streiften uns beinahe im Vorübergehen und doch haben sie mich nicht einmal bemerkt. Es ist nicht das erstemal gewesen, daß sie mich übersehen haben.
Das Glück der beiden hat ihr Gewissen erstickt. Wir stehen hier vor einer Tatsache, die mich ebenso verblüfft hat wie Sie. Es handelt sich um die seltsame Erscheinung eines dauernden Glückes, das gleich einer Seifenblase immer größer und bunter wird, aber nicht wie jene platzt. Glück, das bestehenbleibt, ist an und für sich schon ein Wunder. Glück im Verbrechen ist aber geradezu ungeheuerlich. Zwanzig Jahre laufe ich nun schon darüber den Kopf schüttelnd herum. Der alte Arzt, der alte Beobachter und der alte Moralist und Amoralist – ganz wie Sie wollen! (er hatte mein Lächeln bemerkt) – alle drei stehen sie ratlos vor diesem Schauspiel. Es gibt ein bekanntes Wort, das man allenthalben hören kann: Glück läßt sich nicht sagen. Es läßt sich auch nicht beschreiben. Man kann dieses Einfließen eines höheren Lebens in unser Dasein ebensowenig bildlich darstellen wie das Blut, das durch die Adern strömt. Am Pulsschlag erkennt man, daß es fließt. So ungefähr fühle ich dem unbegreiflichen Glück der beiden den Puls und weiß, daß es da ist. Das Paar erlebt jeden Tag, ohne sich dessen bewußt zu sein, das wundervolle Kapitel von der ehelichen Liebe der Frau von Staël oder auch jene prächtigen Verse aus Miltons ›Verlorenem Paradies‹.
Das Schicksal, ein guter Stern, der Zufall – oder was weiß ich? – hat es so gefügt, daß sie füreinander leben dürfen. Sie sind reich, haben also die Beschaulichkeit, ohne die es einsames Glück nicht gibt, an der es auch oft zugrunde geht. Doch ihrem Glück hat sie nichts angetan. Sie hat nur alles Überflüssige darin getilgt und dem Dasein der beiden eine wundervolle Einfachheit verliehen. Große Ereignisse gibt es für sie nicht. Sie leben so recht als Schloßinsassen, in einem Reich für sich, fern der Welt, mit der sie nichts zu tun haben und deren Hochachtung wie Geringschätzung sie gleich kühl läßt. Sie trennen sie niemals. Wohin der eine geht, dahin folgt der andere. Wie zu Lebzeiten des alten Fechtmeisters sieht man Haute-Claire wieder zu Pferd in der Umgegend von V***. Ihr zur Seite den Grafen. Wenn die Frauen der Stadt sie so sehen, recken sie ihre Hälse noch mehr denn ehedem nach dem geheimnisvollen jungen Mädchen im undurchdringlichen dunkelblauen Schleier. Jetzt zeigt sie den Leuten kühn das Antlitz der ›Dienerin, die es verstanden hat, den Grafen einzufangen‹. Entrüstet und nachdenklich gehen die Frauen ihrer Wege.
Das gräfliche Paar macht keine Reisen. Zuweilen kommen sie nach Paris. Aber sie bleiben stets nur ein paar Tage. Ihr Leben spielt sich gänzlich im Schloß Savigny, dem Schauplatz jenes Verbrechens ab, das ihre abgrundtiefen Herzen wohl vergessen haben.«
»Sie haben keine Kinder, nicht wahr?« fragte ich.
»Ach so«, erwiderte Torty. »Sie meinen, das sei der wunde Punkt, die Vergeltung, die Rache oder das Gottesgericht, wie man das so nennt. Allerdings, sie haben keine. Einmal wagte ich Haute-Claire zu fragen: ›Betrübt es Sie nicht, Gräfin, daß Sie keine Kinder haben?‹ – ›Ich will keine‹, gab sie mir entschieden zur Antwort. ›Dann könnte ich Serlon nicht mehr mit meinem ganzen Herzen lieben.‹ Und beinahe verächtlich fügte sie hinzu: ›Kinder sind gut für unglückliche Frauen.‹«
Mit diesem tiefsinnigen Spruch brach Torty seine Erzählung ab. Die Geschichte hatte mich ergriffen. Und ich sagte zu ihm:
»Haute-Claire ist eine Verbrecherin, gleichwohl eine verführerische Frau. Ohne ihre Schandtat könnte ich Serlons Liebe verstehen.«
»Besser noch mit ihrer Schandtat!« brummte der unerschrockene Biedermann. »Ich begreife den Grafen!«


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Montag, 18. November 2013

Prosa: TEUFELSKINDER (8) - Die Rache eines Weibes - von Jules Amedée Barbey d'Aurevilly



Die Rache eines Weibes (2)
Fortiter!


Tressignies wußte nicht, was er sagen sollte, aber er war voll überzeugt, daß diese Eröffnung wahr war. Dieses Weib war keine Lügnerin. Er erkannte sie jetzt. Die Ähnlichkeit, die ihm auf dem Boulevard aufgefallen war, hatte ihn also nicht genarrt. Er war der Herzogin einmal in seinem Leben begegnet und vor gar nicht langer Zeit in Saint-Jean- de-Luz (bei Biarritz), wo er einen Hochsommer verbracht hatte. Gerade damals waren sehr viele vornehme Spanier dort. Die Herzogin hatte gleich ihm den ganzen Sommer in dem kleinen Ort verweilt, der in allem einen so spanischen Eindruck macht, daß man vermeint, in Spanien zu sein. Er ist auch reich an geschichtlichen Erinnerungen. Unter anderem hat hier die Hochzeitsfeier Ludwigs XIV. stattgefunden.
Die Herzogin von Sierra-Leone befand sich, wie man sagte, in den Flitterwochen mit dem vornehmsten und reichsten Edelmann Spaniens. Als Tressignies in dem Fischernest ankam, das der Welt die gefährlichsten Seeräuber geschenkt hat, sah er sie umgeben von Prunk, wie das Dorf ihn seit den Tagen des Sonnenkönigs nicht erblickt hatte, inmitten der Baskinnen, deren herrliche klassische Gestalten und blaugrün schillernde Augen keinen Vergleich scheuen. Sie überstrahlte sie. Angezogen von dieser schönen Frau, gab sich Tressignies alle Mühe, in ihren Lebenskreis zu kommen, aber die spanische Gesellschaft, deren Mittelpunkt die Herzogin war, schloß sich streng ab, auch vor dem reichen und vornehmen Franzosen. So kam es, daß er die Herzogin nur fern am Strand oder in der Kirche beobachten konnte, sie damals aber nicht persönlich kennenzulernen vermochte. Aber sie hatte sich gerade ob ihrer Unnahbarkeit seinem Gedächtnis stark eingeprägt, wie ein Komet, an dessen Erscheinung wir uns lebenslang erinnern, weil er uns nur eine Zeitlang geleuchtet hat und wir den entschwundenen Stern niemals wieder sehen. Selbst auf seiner großen Reise durch Griechenland und einen Teil Asiens, in Ländern, die so reich an reizvollen Frauen sind, daß man im Paradies zu verweilen meint, selbst dort erstarb das strahlende Bild der fürstlichen Spanierin nicht in seinem Gedächtnis. So fest hatte es sich darin eingegraben. Und diese Frau, die er damals aus der Ferne bewundert hatte, kreuzte jetzt durch den merkwürdigsten und unbegreiflichsten Zufall an so unglaublicher Stelle seinen Lebensweg! Sie war eine öffentliche Dirne, die er sich auf ein paar Stunden gekauft und die sich ihm eben hingegeben hatte, eines der gewöhnlichsten Frauenzimmer, denn auch in der Welt des Lasters gibt es eine Rangordnung. Die herrliche Herzogin von Sierra- Leone, die unerreichbare Frauengestalt, die er geradezu geliebt hatte, denn Traum und Liebe sind Geschwister, sie war eine Kokotte des Pariser Pflasters! Wie war das möglich?
Eben hatte sie sich in seinen Armen gewunden und gestern und vorgestern und vielleicht schon wieder in der nächsten Stunde in denen eines ersten besten anderen. Diese entsetzliche Entdeckung traf ihn auf Hirn und Herz wie ein Keulenschlag. Eben noch in heißer Sinneserregung, in feurigem Fieber, war er jetzt kalt, starr, nüchtern. Der Gedanke, die Gewißheit, daß dies wirklich die Herzogin war, fachte seine Begier nicht von neuem an. Sie war erlöschen wie die Flamme einer Kerze im Wind. Er war nicht imstande, seine Lippen noch einmal an den Kelch zu drücken, aus dem er eben in vollen Zügen getrunken. Seit sie sich ihm entdeckt hatte, war sie ihm keine Dirne mehr, sondern nur noch die Herzogin, aber in welchem Zustand! Besudelt, verdorben, verloren, vom leukadischen Felsen herabgestürzt in ein Meer von Schlamm und Schmutz, zu eklig und widerwärtig, um sie herauszuziehen.
Tressignies schaute sie mit blöden Augen an. Sie saß steif und düster da, aus einer Messalina mit einem Male zu einer geheimnisvollen Agrippina gewandelt. Sie war von ihm ab in die Ecke des Sofas gerückt, auf dem sie sich beide gesielt hatten. Auch nicht mit der Fingerspitze hätte er dieses Geschöpf wieder berühren mögen, dessen prächtigen Leib er eben noch mit inbrünstigen Händen umklammert hatte. War er im Fieber, im Traum, im Wahnsinn?
»Ja«, sagte er zu ihr mit einer Stimme aus halbzugewürgter Kehle – so stark hatte ihn die Entdeckung ergriffen! – »ich glaube Ihnen« (er duzte sie nicht mehr), »denn ich erkenne Sie wieder. Ich habe Sie in Saint-Jean-de-Luz gesehen, vor drei Jahren.«
Bei diesem Namen zog ein Leuchten der Erinnerung über ihre Stirn.
»Ach damals«, sagte sie, »da lebte ich im vollen Rausch des Lebens – und jetzt...« Ihr Gesicht war wieder düster, nur ihr Kopf blieb eigensinnig erhoben.
»Und jetzt?« fragte Tressignies.
»Und jetzt!« wiederholte sie. »Jetzt lebe ich nur noch im Rausch der Rache!« Und mit wilder Heftigkeit fügte sie hinzu: »Im Rausch einer Rache, die so gründlich ist, daß ich selber daran zugrunde gehe, wie es den Moskitos meiner Heimat ergeht, die, vollgesaugt vom Blut ihres Opfers, daran sterben!« Sie sah ihrem Besucher scharf in die Augen. »Sie verstehen mich nicht, aber Sie sollen mich verstehen. Sie wissen, wer ich bin, aber Sie wissen nicht ganz, was ich bin. Wollen Sie meine Geschichte hören? Wollen Sie das?« Sie wiederholte die Frage in eindringlicher Erregtheit. »Ich möchte sie jedem erzählen, der hierher kommt. Der ganzen Welt möchte ich sie erzählen. Dies wäre eine große Schmach für mich, aber eine gründliche Rache.«
»Erzählen Sie!« sagte Tressignies in einer Spannung, die er noch nie verspürt hatte. Er ahnte, daß dieses Weib ihm Dinge erzählen könne, wie er noch keine zu hören bekommen hatte. Ihren schönen Körper hatte er vergessen.
Sie begann:
»Schon oft habe ich den Männern, die hierherkommen, meine Geschichte erzählen wollen, aber alle sagten, sie wären nicht da, um Geschichten anzuhören. Wenn ich anfing, haben sie mich unterbrochen oder sind weggegangen wie die wilden Tiere nach dem Fraß. Was sie hier gesucht, hatten sie ja, die gemeine Befriedigung. Gleichgültig, spöttisch, verächtlich nannten sie mich eine Lügnerin oder eine Verrückte. Keiner glaubt mir, nur Sie! Sie haben mich ja auch in Saint- Jean-de-Luz gesehen, auf der höchsten Höhe gesellschaftlichen Glückes und weiblicher Triumphe. Wie ein Diamant strahlte ich den Namen Sierra-Leone hinaus in die Welt, den Namen, den ich jetzt am Saum meines Kleides durch alle Pfützen der Straße schleppe. So machte man es in alten Zeiten mit dem Schild eines entehrten Ritters, den man an den Schweif eines Pferdes band und durch den Kot schleifen ließ. Ich hasse diesen Namen und schmücke mich nur noch mit ihm, um ihn zu schänden, diesen Namen, den der erste Grandseigneur Spaniens trägt, der stolzeste aller der Granden, die das Vorrecht genießen, bedeckten Hauptes vor ihrem König zu erscheinen, und sich für zehnmal vornehmer halten als die Majestät. Sein Haus ist, wie er vermeint, älter als die der Kastilier und Aragonier, der Habsburger und Bourbonen, kurzum als alle, die je über Spanien geherrscht. Er ist ein Nachkomme der alten Gotenkönige, stolz darauf, in seinen Adern unverfälschtes Blut zu haben. Und ich, die Gattin des Don Christoval von Arcos, Herzogs von Sierra-Leone, ich bin eine Torre-Cremata, die letzte aus dem italienischen Zweig des alten Geschlechts, würdig, nebenbei bemerkt, des Namens: vom verbrannten Turm; denn mich verbrennen alle Flammen der Hölle. Der Großinquisitor Torquemada, ein Torre-Cremata, hat in seinem ganzen Leben nicht so viele Qualen verhängt, als in meinem verruchten Busen lodern. Die Torre-Crematas sind übrigens den Sierra- Leones ebenbürtig. In zwei mächtige Linien geteilt, waren sie Jahrhunderte hindurch in Spanien wie Italien allmächtig. Im Quattrocento, unter dem Papst Alexander dem Sechsten, gaben sich die Borgias, die sich in ihrem Größenwahn am liebsten mit allen Fürstenhäusern von Europa verschwägert hätten, für Verwandte von uns aus, aber die Torre-Crematas wiesen diese Anmaßung höhnisch zurück, und zwei von ihnen büßten diesen Hochmut mit ihrem Leben. Cäsar Borgia soll sie haben vergiften lassen.
Meine Vermählung mit dem Herzog von Sierra-Leone war die Folge einer Familienabmachung. Weder auf meiner noch auf seiner Seite kam Neigung in Frage. Es erschien ganz natürlich, daß eine Torre-Cremata einen Sierra-Leone heiratete, war ich doch im strengsten altspanischen Standesbewußtsein erzogen. Dies ist so unerbittlich, daß es die Herzen am liebsten nicht schlagen ließe. Und doch ist das Herz stärker als dieser Panzer aus Erz. Ich verliebte mich. In Don Esteban. Ehe ich ihm begegnete, wußte ich nicht, daß ich ein Herz hatte. Nach altspanischem Begriff ist die Ehe eine ernste Angelegenheit. Und eben das war sie mir bis dahin.
Der Herzog von Sierra-Leone ist ein echter Altspanier, ein eifriger Wahrer alter Sitten. Was Sie in Frankreich alles gehört haben mögen von Spanien als einem Land des Hochmuts, der Finsternis und Schweigsamkeit, alles das finden Sie im höchsten Maße vereint in diesem Mann.
Zu stolz, um irgendwo anders zu leben, denn auf seinen Gütern, wohnte er in einem alten Ritterschloß an der portugiesischen Grenze, in seinen Lebensgewohnheiten noch feudaler als seine Burg. Dort lebte auch ich, neben ihm, zwischen meinem Beichtvater und meinen Kammerzofen, und führte ein prunkvolles eintöniges trübseliges Dasein, dessen Langeweile jede andere Frauenseele vernichtet hätte. Aber ich war ja dazu erzogen worden, zu sein, was ich war, die Gemahlin eines spanischen Granden.
Ich war fromm, wie dies in Spanien die Pflicht einer Dame meines hohen Ranges ist, und ich besaß die unerschütterliche Gelassenheit meiner Vorfahren, deren Bildnisse die Säle und die Hallen des Schlosses von Sierra-Leone schmückten. In ihren ehernen Harnischen und steifen Staatsröcken starren sie stolz und streng herab. Ich hatte diese lange Reihe großer hoheitsvoller Herren und untadeliger Damen, deren Tugend von ihrem Hochmut bewacht war wie ein Brunnen von einem Löwen, fortzusetzen. Die Einsamkeit, in der ich dahinlebte, bedrückte meine Seele, nicht, die still war wie der rote Marmorfelsen, auf dem das Schloß von Sierra-Leone thront. Ich ahnte nicht, daß unter ihm ein Vulkan schlummerte.
Don Esteban, Marquis von Vasconcellos, ein Vetter des Herzogs, Portugiese, kam nach Sierra-Leone, und die Liebe, von der ich bis dahin nur durch ein paar geheimnisvolle Bücher gehört hatte, überfiel mein Herz wie ein Adler, der aus den Lüften auf ein Kind herabstößt, das er davonträgt und das laut schreit. Auch ich schrie. Ich war nicht umsonst eine Spanierin von uraltem Blut.
Mein Stolz bäumte sich auf gegen das, was ich in der Gegenwart dieses gefährlichen Esteban empfand, der sich meiner mit mich empörender Gewalt bemächtigte. Ich warnte den Herzog. Ich erfand allerlei Vorwände, um ihn zu veranlassen, den Marquis so rasch wie möglich aus dem Schloß zu entfernen. Ich hätte bemerkt, sagte ich, daß er Gefühle für mich hege, die mich wie eine Beleidigung berührten. Aber Don Christoval antwortete mir wie der Herzog von Guise, als man ihn vor Heinrich dem Dritten warnte: ›Er wird es nicht wagen!‹
Das war eine Herausforderung des Schicksals, das sich rächte, indem es sich vollzog. Dieses Wort warf mich in Estebans Arme ...«
Sie hielt einen Augenblick inne. Tressignies bewunderte die erlesene Ausdrucksweise, in der sie ihm dies vorgetragen hatte. Es bewies allein schon, daß sie das war, was zu sein sie vorgab, die Herzogin von Sierra-Leone. Wie fern dünkte ihm jetzt die Dirne vom Boulevard zu sein. Es war ihm, als habe diese Frau eine Maske abgestreift und zeige ihm nun ihr wahres Gesicht, als sei sie jetzt, was sie in Wirklichkeit war. Auch die Haltung ihres schamlosen Körpers hatte etwas Reines angenommen. Während sie redete, hatte sie einen Schal, der zufällig auf dem Sofa lag, umgetan. Sie hatte ihren »verdammten Busen« – wie sie gesagt – verhüllt, dem ihr Schandgewerbe noch nicht die schöne Rundung und die jungfernhafte Strammheit genommen hatte. Sogar ihre Stimme hatte den rohen Klang der Straße verloren. Täuschte sich Tressignies im Banne der Erzählung? Es schien ihm, als hätte ihre Rede den Ton der Vornehmheit wiedergewonnen.
»Ich weiß nicht«, fuhr sie fort, »ob andere Frauen so sind wie ich, aber der ungläubige Hochmut des Don Christoval, sein gemächliches unbeunruhigtes: ›Er wird es nicht wagen !‹, gemünzt auf den Mann, den ich liebte, empfand ich als eine Beleidigung dessen, der mich bereits bis in die Tiefe meines Wesens wie ein Gott durchdrungen hatte. ›Beweise ihm, daß du es wagst !‹ sagte ich am nämlichen Abend zu Don Esteban und erklärte ihm damit meine Liebe. Es war gar nicht nötig, es ihm zu sagen. Er vergötterte mich seit dem ersten Tag, da er mich gesehen. Unsere gegenseitige Leidenschaft war eine Liebe auf den ersten Blick. Zwei Pistolenschüsse, zugleich abgefeuert, trafen beide tödlich!
Ich hatte meine Pflicht als spanische Ehefrau getan, indem ich Don Christoval aufmerksam machte. Er konnte mich meines Lebens berauben, denn ich war seine Frau, und ich hatte nicht mehr über mein Herz zu verfügen. Und gewiß wäre dies geschehen, wenn er, wie ich ihm vorgeschlagen, den Marquis aus dem Schloß entfernt hätte. In der Raserei meines entfesselten Herzens wäre ich aus Sehnsucht nach ihm gestorben. Dieser schrecklichen Gefahr hatte ich mich ausgesetzt. Aber der Herzog hatte mich nicht verstanden; er dünkte sich so erhaben über den Marquis, daß er es einfach für unmöglich hielt, daß dieser seine Blicke zu mir erheben und mir zu huldigen wagen könne. Soweit aber ging der Heldenmut meiner ehelichen Pflicht nicht angesichts der Leidenschaft, die mich beherrschte!
Ich mache keinen Versuch, Ihnen ein getreues Bild meiner Liebe zu geben. Vielleicht erschiene sie Ihnen unglaubhaft. Aber schließlich ist es gleichgültig, was Sie darüber denken. Sie mögen mir glauben oder nicht glauben: es war eine ebenso heiße wie reine, eine ritterliche, romantische, beinahe himmlische, fast überirdische Liebe. Waren wir beide doch kaum zwanzig Jahre alt und aus dem Land des Cid, des Loyola und der heiligen Therese. Ignaz hat die Himmelskönigin nicht reiner lieben können, als Don Esteban mich liebte; und Therese ihren himmlischen Bräutigam um nichts inbrünstiger als ich den Marquis.
Ehebruch! Pfui! Dachten wir daran, daß wir Ehebrecher waren? Unsere Herzen schlugen höher. Wir lebten in einer Welt so hehrer hoher erdenferner Gefühle, daß wir nichts verspürten von den Gelüsten und Sünden einer gewöhnlichen Liebschaft. Wir atmeten in reiner Himmelsluft. Aber es war die glühende Luft eines Flammenhimmels. Konnte dieser Zustand lange währen? War das menschenmöglich? Spielten wir nicht ein allzu gefährliches Spiel? Mußten wir nicht, schwach wie wir alle sind, nach einer gewissen Zeit von der Höhe unserer reinen Traumwelt in die Tiefe stürzen? Esteban war fromm wie ein portugiesischer Ritter aus der Zeit der Albuquerque. ich war sicherlich nicht so stark wie er; aber ich setzte in ihn und in die Lauterkeit seiner Liebe das Vertrauen meiner reinen Hinneigung. Ich thronte in seinem Herzen wie eine Madonna in einer goldenen Nische, eine ewige Lampe zu ihren Füßen. Er liebte mich um meiner Seele willen. Er war einer jener seltenen Liebenden, die die angebetete Frau erhaben sehen wollen. Voll Edelmut, voll Hingabe, voll Heldentum sollte ich sein, eine große Dame wie aus Spaniens größter Zeit. Mich eine schöne Tat vollbringen sehen, war ihm mehr wert als Brust an Brust mit ihm einen Walzer zu tanzen. Wenn sich die Engel vor Gottes Thron lieben, so lieben sie sich, wie wir beide uns geliebt haben. Wir gingen so völlig in uns auf, daß wir stundenlang zusammen verbrachten, Hand in Hand, Aug in Aug, imstande, alles zu tun, denn wir waren allein, aber so glückselig, daß wir darüber hinaus nichts begehrten. Manchmal tat uns dieses ungeheuere Glück weh, das uns umflutete, so stark war es, und wir sehnten uns danach, zu sterben, eins mit dem ändern, eins für den andern, und wir verstanden beide das Wort der heiligen Therese: Ich sterbe vor Todessehnsucht. Es ist die Sehnsucht eines Erdengeschöpfes, das eine seine Seele zersprengende überirdische Liebe nicht mehr erträgt und ihrem wilden Strom Raum zu schaffen wähnt, indem es das Gefäß zertrümmert und sich dem Tod weiht. Ich bin jetzt die armseligste aller Sünderinnen, aber glauben Sie mir, zu jener Zeit haben mich Estebans Lippen niemals berührt, und ein Kuß, den er einer Rose aufdrückte und den ich durch diese empfing, beraubte mich fast meiner Sinne. In der Tiefe des entsetzlichen Abgrundes, in den ich mich freiwillig gestürzt, erinnere ich mich in jedem Augenblick zu meiner Qual der himmlischen Wonnen jener reinen Liebe, in der wir beide lebten, versunken, verloren, ohne Verstellung, weil unsere Leidenschaft hoch über allem stand, jedem sichtbar, so daß auch Don Christoval ohne viel Mühe erkennen mußte, daß wir einander vergötterten. Wir lebten mit den Augen in den Sternen. Wie sollten wir da merken, daß er voller Eifersucht war und voll welch starker Eifersucht? Der einzigen, der er fähig war: der Eifersucht aus Stolz. Er überraschte uns nicht. Man überrascht ja nur die, die sich verstecken. Wir verbargen uns nicht. Wir waren so rein wie die Flamme am hellichten Tag und ebenso durchsichtig. Und obendrein quoll das Glück in uns über. Der Herzog sah es also. Esteban hatte es gewagt! Und ich auch.
Eines Abends waren wir zusammen wie zumeist, seit wir uns liebten. Er saß mir zu Füßen, wie vor der Madonna, in so inniger Versunkenheit, daß wir besonderer Zärtlichkeiten nicht bedurften. Plötzlich trat der Herzog ein, mit ihm zwei Mohren, die er aus den Kolonien heimgebracht, wo er lange Zeit Statthalter war. In unserer Weltverlorenheit bemerkten wir nichts, als mir mit einem Male Estebans Kopf schwer in den Schoß fiel. Er war erdrosselt. Die Mohren hatten ihm eine jener Schlingen um den Hals geworfen, mit denen man drüben in Neu-Spanien die Büffel tötet.
Rasch wie ein Blitz war es geschehen. Mich hatte der Blitz nicht getroffen. Ich fiel nicht in Ohnmacht. Ich schrie nicht auf. Keine Träne floß aus meinen Augen. Ich war starr und stumm, voll namenlosem Entsetzen, aus dem mich nur ein Riß durch mein ganzes Wesen wieder zum vollen Bewußtsein brachte.
Ich hatte die Empfindung, daß man mir das Herz aus dem Leib schnitt. Ach, ich war es nicht, dem man dies antat. Es war Esteban, dem es entrissen worden. Der Erdrosselte lag zu meinen Füßen mit aufgeschlitzter Brust, in der die Ungeheuer gewühlt hatten wie in einem Sack. Das hatte ich empfunden. So sehr war ich eins mit ihm, daß ich gespürt hatte, was er empfunden hätte, wenn er noch am Leben gewesen wäre. Ich hatte den Schmerz erlitten, den sein Leichnam nicht mehrempfand. Das hatte mich aus der Erstarrung gerissen, der ich vor Schaudern verfallen war, als sie ihn mir erwürgten.
Ich warf mich den Mördern entgegen. ›Nun komme ich daran !‹ rief ich ihnen zu. Willens, desselben Todes zu sterben wie er, bot ich meinen Kopf der scheußlichen Schlinge dar. Schon schickten sie sich an, ihr Werk zu vollenden, da rief der Herzog, der stolze Grande, der sich mehr dünkte als der König: ›Die Königin ist unantastbar!‹ Und er jagte die Mohren mit der Hetzpeitsche zurück.
›Nein, meine Gnädige, Sie bleiben leben!‹ rief er mir zu. ›Um bis in alle Ewigkeit an das zu denken, was Sie jetzt sehen sollen!‹ Er pfiff. Zwei mächtige Hunde stürzten herein.
›Man werfe das Herz des Verräters den Hunden zum Fraß vor!‹ befahl er.
Bei diesen Worten richtete sich, ich weiß nicht was, in mir wieder auf. ›Das ist nichts!‹ rief ich ihm zu. ›Räche dich gründlicher! Mir mußt du es zu essen geben !‹
Er erstarrte.
›So wahnsinnig liebst du ihn?‹
Der Unmensch hatte meine Liebe zum äußersten gesteigert. Jetzt liebte ich den Toten so sehr, daß ich weder Furcht noch Grauen vor dem blutigen Herzen empfand, das noch von mir erfüllt, noch heiß von mir war. Ich wollte es in mir aufnehmen, dies Herz ...
Auf den Knien flehte ich darum, die Hände gefaltet. Ich wollte dem edlen angebeteten Herzen den ruchlosen gottlästerlichen Schimpf ersparen. Ich hätte mit diesem Herzen das heilige Abendmahl genommen wie mit einer Hostie. War Esteban nicht mein Gott?
Die Erinnerung an Gabriele von Vergy, deren Geschichte wir, Esteban und ich, so oft zusammen gelesen hatten, war in mir aufgetaucht. Ich beneidete diese Frau. Ich fand sie glücklich, denn ihr Leib war zum lebendigen Grab des Herzens geworden, das sie geliebt hatte. Aber der Anblick einer solchen Liebe machte den Herzog unerbittlich. Seine Hunde zerrissen Estebans Herz vor meinen Augen. Ich machte es den Bestien streitig. Ich rang mit ihnen darum, konnte es ihnen aber nicht entreißen. Sie bissen mich und rieben ihre blutigen Schnauzen an meinen Kleidern ab.«
Die Erzählerin hielt inne. Die Erinnerung hatte sie totenblaß gemacht. Nach Atem ringend und mit einer heftigen Gebärde stand sie auf, riß eine Lade am kupfernen Handgriff auf und zeigte Tressignies ein zerfetztes Kleid, das mehrfach Blutspuren trug.
»Sehen Sie!« rief sie. »Das ist das Herzblut des Mannes, der mich geliebt hat! Wenn ich einsam bin in dem abscheulichen Dasein, das ich führe, wenn mich der Ekel befällt, wenn der Schmutz mir bis in den Mund kommt und mich beinahe erstickt, wenn der Geist der Rache in mir erlahmt, wenn die Herzogin in mir erwacht und sich vor der Dirne entsetzt, dann hülle ich mich in dieses Kleid, dann berühre ich meinen besudelten Leib mit diesen Blutflecken, die für mich noch immer flammen, und fache meine Rache von neuem an. Diese blutigen Lumpen sind mein Heiligtum. Habe ich sie an meinem Körper, dann rast mir die Wut der Rache durch die Eingeweide, und es ist mir, als fände ich neue Kraft zu ihr bis in alle Ewigkeit.«
Tressigniers erschauerte, während er der unheimlichen Frau zuhörte. Es graute ihm vor ihren Gesten, ihren Worten, ihrem Antlitz. Es war zu einem Gorgonenhaupt geworden. Es kam ihm vor, als schaue er um ihrem Kopf die Schlangen, die diese Medusa in ihrem Herzen trug. Jetzt begann er das Wort Rache zu verstehen, das sie so oft wiederholte, das ihr gleichsam immer auf den Lippen flammte.
Sie begann von neuem:
»Das ist meine Rache! Verstehen Sie das? Unter allen Arten habe ich sie gewählt, wie man unter einer Reihe von Dolchen den wählt, der die grausamste Wunde hervorbringt, der die schartigste Klinge hat, um das verhaßte Wesen, das man umbringen will, gründlich zu zerfleischen. Diesen Mann einfach zu töten, mit einem einzigen Schlag, das wollte ich nicht. Hat er Don Esteban mit seinem Degen ritterlich getötet? Nein! Er hat ihn durch seine Knechte ermordet. Er hat sein Herz vor die Hunde geworfen und seinen Körper vielleicht ins Beinhaus. Ich weiß es nicht. Ich habe nie etwas darüber erfahren. Und ich sollte ihn für alles das bloß töten! Das wäre viel zu mild und viel zu rasch! Langsamer, grausamer muß es sein! Überdies ist der Herzog ein tapferer Mann. Er hat keine Furcht vor dem Tod. Die Sierra-Leones haben ihm zu allen Zeiten getrotzt. Aber sein Stolz, sein maßloser Hochmut ist feig, wenn ihm Schande droht. Man muß ihn also in seinem Stolz treffen und an seinem Hochmut kreuzigen! Darum habe ich mir damals geschworen, seinen stolzen Namen in den widerlichsten Schmutz zu tauchen, diesen Namen selber zu Schimpf und Schande, zu Dreck und Kot zu wandeln. Und deshalb bin ich geworden, was ich bin: eine öffentliche Dirne, die Hure von Sierra-Leone, die heute abend just Sie aufgegabelt hat!«
Bei den letzten Worten funkelten ihre Augen vor Freude über einen wohlgezielten Schlag.
Tressignies fragte: »Weiß er, der Herzog, was Sie geworden sind?«
»Wenn er es nicht weiß, so wird er es eines Tages wissen«, antwortete sie mit der sicheren Zuversicht eines, der für alle Fälle seine Anordnungen getroffen hat und der kommenden Dinge gewiß ist. »Die Kunde von dem, was ich treibe, kann ihn jeden Tag erreichen. Dann trifft ihn der Kot meiner Schmach. Einer von den Männern, die hier bei mir gewesen sind, wird ihm die Schande seiner Gattin ins Gesicht speien. Und niemals läßt sich dieser Dreck wieder abwaschen. Aber das wäre nur Zufall, und dem Zufall vertraue ich meine Rache nicht an. Ich bin willens daran zu sterben. Mein Tod wird meine Rache besiegeln und vollenden!«
Tressignies verstand die letzten, ihm dunklen Worte zunächst nicht, aber alsbald sollten sie ihm gräßlich deutlich werden.
Sie begann von neuem:
»Ich will dort sterben, wo Dirnen wie ich zu sterben pflegen. Unter Franz dem Ersten gab es einen Mann, der sich bei einer meinesgleichen absichtlich eine schreckliche und scheußliche Krankheit holte und seine Frau ansteckte, damit sie wiederum den König vergiften sollte, dessen Geliebte sie war, um sich so an allen beiden zu rächen. Kennen Sie diese Geschichte? Ich tue nicht weniger als dieser Mann. Bei dem schandbaren Leben, das ich alle Abende führe, muß es wohl eines Tages geschehen, daß die Lustseuche die Dirne ergreift und an ihr nagt, bis sie in Stücke zerfällt und in irgendeinem elenden Spittel zugrunde geht. Oh, dann ist mein Leben bezahlt!« Sie frohlockte in dieser entsetzlichsten aller Erwartungen. »Dann wird es Zeit sein, daß der Herzog von Sierra-Leone erfährt, wie seine Gemahlin, die Herzogin von Sierra-Leone, gelebt hat und wie sie gestorben ist!«
Tressignies hätte eine so tiefe Rachsucht für unmöglich gehalten, die alles übertraf, was er aus der Geschichte kannte. Weder das Italien des Secento noch Korsika, jene Länder, die wegen der Unversöhnlichkeit ihrer Leidenschaft berühmt sind, boten ihm ein Beispiel einer mehr überlegten und entsetzlicheren Vergeltung als diese Frau, die sich an sich selbst, an ihrem eigenen Leib und ihrer eigenen Seele rächte. Er war erschüttert vor der Großartigkeit dieser gräßlichen Vergeltung. Allerdings, es war die Großartigkeit der Hölle.
»Und selbst wenn er es nicht erführe«, fuhr sie fort, ihre Seele ihm immer mehr enthüllend, »so weiß ich es doch. Ich weiß, was ich jeden Abend tue, daß ich diesen Schlamm trinke, der mir Nektar ist, denn er enthält meine Rache. Ich schwelge in jedem Augenblick in dem Bewußtsein dessen, was ich bin. Indem ich ihn beschimpfe, den stolzen Herzog, sehe ich ihn deutlich vor mir, wie er leiden würde, wenn er es wüßte. Gewiß sind Gedanken und Gefühle wie die meinen Wahnsinn, aber gerade in diesem Wahnsinn liegt mein Glück. Als ich von Sierra-Leone floh, habe ich dieses kleine Bild des Herzogsmitgenommen, um es, als wäre er es selbst, zum Zeugen meiner Schande zu machen. Wie oft habe ich zu ihm gesagt: ›Gib acht! Gib acht!‹ Und wenn der Ekel mich in euren Armen ergreift – und er ergreift mich stets –, dann ist dieses Armband meine Zuflucht.« Sie hob ihren Arm mit der Gebärde einer Tragödin. »Dieser Reif brennt auf mir wie Feuer, aber trotz aller Qual und Pein trage ich ihn, um Estebans Henker nie zu vergessen. Sein Bild entfacht in mir immer wieder von neuem die Begeisterung, die Verzückung des Hasses und der Rache, die von den Männern in ihrer Dummheit und Eitelkeit für das Echo ihrer Lüste gehalten wird. Ich weiß nicht, wer Sie sind; aber sicherlich sind Sie ein höherer Mensch als alle die Männer, die schon hier waren. Und doch haben auch Sie noch vor ein paar Augenblicken gewähnt, ich sei ein menschliches Wesen, vom Fleisch und Blut der anderen während nichts in mir mehr lebt als der Gedanke, Don Esteban an jenem Unmenschen zu rächen, den Sie hier im Bild sehen! Ja, sein Bild treibt mich weiter wie der säbelbreite Sporn, den der Araber seinem Roß in die Weichen stößt, um es durch die Wüste zu jagen. Das Geld, durch das ich rasen muß, ist weiter als die Wüste, und ich stoße mir dies Bild in die Augen und tief ins Herz, um den Galopp zu verstärken, wenn ihr mich in euren Armen haltet. Das Bild ist er selber, und diese gemalten Augen schauen starr auf mich und euch! Wie gut verstehe ich den Glauben alter Zeiten, daß man jemandem in seinem Bild Böses antun könne. Ich begreife die unsinnige Wonne, die man empfing, wenn man dem Bild dessen, den man umgebracht sehen wollte, den Dolch in das Herz stieß. Leider ...«
In verändertem Ton, aus grausamer Bitterkeit plötzlich in unsagbare Wehmut verfallend, fügte sie hinzu:
»Leider besitze ich kein Bild Estebans. Ich sehe ihn nur in meiner Seele. Und vielleicht ist das recht gut. Denn hätte ich ihn vor Augen, dann zöge er mein armes Herz empor, und ich müßte erröten ob der unwürdigen Erniedrigung meines Lebens. Vor lauter Reue wäre ich nicht mehr imstande, Rache zu üben.«
Die Meduse war weich geworden, wenn auch ihre Augen trocken blieben. Tressignies, tief ergriffen, erfaßte die Hand der Frau, die jetzt ganz andere Gefühle denn zuvor in ihm erweckt hatte, und küßte sie voll Achtung und Mitleid. Hatte er ein Recht, sie zu verachten? Ihre Willenskraft und ihr Unglück dünkten ihm erhaben. Welch eine Frau! sagte er bei sich. Hätte sie nicht den Herzog von Sierra-Leone, sondern den Marquis von Vasconcellos geheiratet, so wäre sie in ihrer edlen Liebe eine zweite Markgräfin von Pescara geworden. Aber vielleicht hätte sie es der Welt nie zeigen können, und niemand wüßte, wie ungeheuerlich ihre Leidenschaft und ihre Willenskraft ist. So sehr er, als Kind seiner Zeit, Zweifler war und längst gewohnt, sich selbst zu beobachten und zu bespötteln, fand sich Tressignies doch nicht lächerlich, als er der Verlorenen die Hand küßte. Aber zu sagen wußte er ihr nichts mehr. Er fühlte sich ihr gegenüber in einer peinlichen Lage. Ihre Geschichte hatte das angesponnene Band zwischen ihr und ihm wie mit einem scharfen Messer zerschnitten. In ihm wogte ein Wirrwarr von Bewunderung, Grauen und Verachtung. Es wäre ihm sehr geschmacklos erschienen, sich ihr gefühlvoll zu zeigen oder sie gar begehren zu wollen. Er hatte sich oft genug über die Tugendbolde lustig gemacht, von denen es damals in Paris unter dem Einfluß gewisser rührseliger Romane und Schauspiele wimmelte, und über ihre scheinheiligen Versuche, gefallene Frauen wie umgestürzte Blumentöpfe wieder aufzurichten. Das konnte man den Priestern überlassen. Überdies schien es ihm, daß selbst deren Macht an der Seele dieser Frau scheitern würde. Schmerzlich bewegt, verharrte er in einem Schweigen, das ihm wohl mißlicher war als ihr. Immer noch völlig im Banne ihrer Gedanken und Erinnerungen, fuhr sie fort:
»Der Gedanke, den Herzog zu schänden statt ihn zu töten, diesen Mann, dem die Ehre im Sinne der Welt mehr bedeutet als das Leben, ist mir nicht sofort gekommen. Es währte lange, ehe ich darauf verfiel. Nach der Ermordung des Don Esteban, von der vermutlich selbst im Schloß niemand etwas erfuhr – denn sein Leichnam ist wohl samt den beiden Negern in einer Versenkung verschwunden –, sprach der Herzog nicht mehr mit mir, nur kurz und förmlich vor der Dienerschaft. Die Frau eines Cäsaren darf nicht in Verdacht kommen; und ich sollte vor aller Welt die makellose Herzogin von Sierra-Leone sein und bleiben. Wenn wir aber unter vier Augen waren, fiel niemals ein Wort, niemals eine Anspielung.
Es herrschte das unerschöpfliche Schweigen des ewigen Hasses. Habe ich doch die Verstellungskunst meiner italienischen Ahnen nicht umsonst geerbt. Ich war wie aus Erz, bis in meine Augen. Don Christoval konnte nicht ahnen, was hinter meiner ehernen Stirn vorging, wo tausend Rachepläne wild durcheinanderwogten. Ich war undurchdringlich. In einer Nacht floh ich aus dem Schloß, dessen Mauern mich erdrückten. Niemandem vertraute ich mich dabei an. Zuerst hegte ich die Absicht, nach Madrid zu gehen. Aber dort war der Herzog allmächtig, und alle Netze der Polizei hätten sich auf den ersten Wink von ihm um mich zusammengezogen. Dort konnte er mich ohne Mühe wieder einfangen und in das In Pace irgendeines Klosters stecken. Dann aber war ich für die Welt begraben; und gerade die Welt brauchte ich bei meinem Vorhaben.
Paris war sicherer. Ich wandte mich also nach Paris. Es gibt keinen besseren Ort für meine Rache als diese Stadt, die der Mittelpunkt der Welt und ihres Klatsches ist. Hier begann ich das Dasein einer Dirne der niedrigsten Stufe, die sich für ein paar Franken dem ersten besten verkauft, auch dem Lumpen. Geld und Geschmeide hatte ich mir reichlich mitgenommen.
Unerschrocken habe ich meine Rache begonnen. Sie währt nun schon drei Monate lang...«
Ihre Stimme war heiser geworden.
»Schon drei Monate...«, unterbrach sie Tressignies, »... dauert dies...?« Er wagte nicht zu sagen, was.
»Ja, drei Monate!« wiederholte sie. »Man braucht Zeit, um solch Gift zu kochen und wieder zu kochen!«
Trotzige Leidenschaft und bitterer Schmerz mischten sich in ihrer Antwort.
Tressignies schaute verwundert auf diese vollendete Künstlerin der Rache. Ihm, der sich eingebildet hatte, über jedwede unmittelbare Empfindung weit hinaus zu sein, diesem Meister der kühlen Betrachtung, ihm ging der Dunstkreis dieses Weibes auf die Nerven. Er mußte wieder frische Luft atmen und hinweg aus diesem Raum dunkler Barbarei, in dem der Kulturmensch erstickte.
Sie sah, daß er sich entfernen wollte.
»Nehmen Sie Ihr Geld mit!« sagte sie mit einer Gebärde der wiedererwachten Herzogin, indem sie verächtlich auf die blaue Glasschale wies, die er mit Goldstücken angefüllt hatte. »Ich nehme von niemandem Gold.« Und mit dem Stolz der Demut, die ihre Rache war, fügte sie hinzu: »Ich bin nur eine Dirne zu fünf Franken.«
Dies Wort ward ausgesprochen, wie es gemeint war. Es war der Ausklang der verrückten Erhabenheit, der Höllengröße, die sie in sich trug und ihm geoffenbart hatte.
Der Abscheu vor der Form dieses letzten Wortes gab Tressignies die Kraft zu gehen. Er nahm das Gold aus der Schale und ließ nur darin, was sie verlangt hatte.
Da sie es will, sagte er sich, so drücke auch ich auf den Dolch, den sie sich ins Herz gestoßen hat!
Und er verließ das Zimmer in heftiger Erregung.
Die Armleuchter überfluteten noch immer mit ihrem Licht den Gang und das Treppenhaus. Jetzt begriff er, warum diese Kerzenträger vor der gemeinen Tür angebracht waren. Auf der Karte, die wie ein Aushängeschild vor einer Fleischerbude angeklebt war, stand in großen Lettern:
Herzogin Arcos von Sierra-Leone
Unter dem Namen stand ein gemeines Wort, das Gewerbe bezeichnend, das sie betrieb.
Nach diesem unglaublichen Erlebnis kam Tressignies in so verstörtem Zustand nach seiner Wohnung, daß er sich beinahe darüber schämte. Nur Toren wollen wieder jung sein. Wer das Leben kennt, weiß, daß es nicht von Nutzen wäre. Mit Schrecken sah Tressignies, daß er sich vielleicht zu jung benähme, und so schwor er sich, das Heim der Herzogin nie wieder zu betreten, trotz der Anteilnahme, die diese unerhörte Frau in ihm erweckt hatte. Er sagte sich: Wozu soll ich mich nochmals nach diesem verseuchten Ort begeben, wohin sich ein Geschöpf von edler Abkunft freiwillig verbannt? Sie hat mir ihr ganzes Leben enthüllt, und ohne viel Mühe kann ich mir bis ins einzelne vorstellen, wie entsetzlich dieses Dasein Tag um Tag oft sein muß.
Zu diesem Entschluß gelangte Tressignies am Kamin in der Einsamkeit seiner Wohnung mit vieler Mühe. Er verschanzte sich einige Zeit darin vor allen Geschehnissen und Zerstreuungen der Außenwelt, um unter dem Eindruck und der Erinnerung jenes Abends zu verbleiben, an denen sich sein Geist unwiderstehlich weidete wie an einer seltsamen und gewaltigen Dichtung, die ihm ihresgleichen nicht zu haben schien, weder bei Byron noch Shakespeare, seinen beiden Lieblingsdichtern. Und so verbrachte er viele Stunden in seinem Lehnstuhl, träumerisch blätternd in dem immer offenen Buch dieses Werkes eines so grausig starken Willens. Es hatte auf ihn die Wirkung einer Wunderblume, die ihn die Pariser Gesellschaft vergessen ließ, seine Heimat. Dahin zurückzukehren vermochte er nur unter dem Aufgebot aller seiner Kraft. Die tadellosen großen Damen, die er dort fand, dünkten ihm wie Schatten. Obwohl er nicht im geringsten prüde war und seine Freunde nicht minder, erzählte er ihnen doch kein Wort von seinem Erlebnis, aus zarter Rücksicht, die ihm selber lächerlich vorkam, zumal ihn die Herzogin förmlich aufgefordert hatte, ihre Geschichte jedermann preiszugeben und sie nach Möglichkeit allerorts zu verbreiten. Er tat das Gegenteil und verheimlichte sie. Er verkorkte und versiegelte sie im geheimsten Schrein seines Wesens wie eine Flasche ganz seltenen Parfüms, das seinen Duft verlieren könnte, wenn man daran riechen läßt. Und noch etwas war ganz sonderbar an einem Mann seiner Art. Im Café de Paris, im Klub, im Theater oder an sonst welchem Ort, wo sich Herren treffen und einander alles erzählen, vermochte er mit keinem seiner guten Freunde zu reden, ohne daß es ihm davor bangte, das nämliche Abenteuer zu vernehmen, das ihm widerfahren war. Die Möglichkeit erregte ihn in den ersten zehn Minuten des Gespräches mit jedwedem dermaßen, daß er zitterte.
Dessenungeachtet hielt Tressignies sein Wort und mied nicht nur die Rue Basse-du-Rempart, sondern auch den Boulevard. Er lehnte nicht mehr wie die anderen gants jaunes, die Helden jener Zeit, am Geländer bei Tortoni. Wenn ich ihr verteufeltes gelbes Kleid flattern sehe, dachte er bei sich, bin ich vielleicht doch wieder so töricht und laufe ihr nach. Vor jedem gelben Kleid, das ihm begegnete, verlor er sich in Träumerei. Jetzt liebte er die gelben Kleider, die er ehedem immer abscheulich gefunden hatte. Sie hat mir den Geschmack verdorben, gestand er sich. So verspottete der Weltmann den Menschen. Aber das, was die kluge Frau von Stael die Stimme des Dämons nennt, das war stärker als der Weltmann und der Mensch zusammen. Tressignies verfiel der Schwermut. Er war ehedem in Gesellschaft von großer Lebhaftigkeit, seinen Witz hatte man ebenso geliebt wie gefürchtet. letzt plauderte er nicht mehr so bezaubernd wie früher. »Ist er verliebt?« fragten sich die Klatschbasen. Und die alte Marquise von Clérembault warf ihm vor, er trüge eine Hamlet-Maske zur Schau.
Seine Schwermut steigerte sich ins Krankhafte. Sein Gesicht sah wie bleiern aus. »Was mag Herrn von Tressignies nur fehlen?« fragte man sich, und schon war man geneigt, ihm die Krankheit Bonapartes anzudichten, da entzog er sich eines schönen Tages allen Fragen und Forschungen, indem er wie urplötzlich seinen Koffer packte und wie in einer Versenkung verschwand.
Wo war er hin? Kein Mensch kümmerte sich darum. Länger als ein Jahr blieb er aus. Dann kam er zurück nach Paris und war wieder der Gesellschaftsmensch von ehedem.
Eines Abends war er beim spanischen Gesandten, wo, nebenbei bemerkt, alles durcheinanderwogte, was von Bedeutung war. Es war spät. Man ging zum Mahl. Der Schwarm strömte zu den Darbiettischen. Die Salons wurden leer.
Im Spielzimmer verblieben nur etliche hartnäckige Whistspieler, darunter Tressignies. Einer der Herren, der die bei jedem Robber gemachten Einsätze in ein elfenbeinernes Merkbüchlein eintrug, stieß beim Blättern darin plötzlich auf etwas, was ihm ein »Ach ja!« entlockte, wie es einem entfährt, wenn man auf etwas Vergessenes stößt.
»Exzellenz!« wandte er sich an den Herrn des Hauses, der, die Hände auf dem Rücken, dem Spiel zusah. »Gibt es in Madrid noch Sierra- Leones?«
»Gewiß gibt es dort welche«, erwiderte der Gesandte. »Vor allem den Herzog d'Arcos von Sierra-Leone, einen der ersten vom Hochadel.«
»Was ist denn das für eine Herzogin von Sierra-Leone, die eben hier in Paris gestorben ist? In welchem Verhältnis steht sie zum Herzog?« fragte der Wißbegierige weiter.
»Das könnte nur seine Frau sein«, meinte der Gesandte. »Indessen die ist seit zwei Jahren so gut wie tot. Sie ist verschwunden, ohne daß man weiß, warum und wie. Die Wahrheit ist tiefes Geheimnis. Wohlgemerkt, diese Herzogin war eine großartige Dame, keine von heutzutage, keine von den tollen Weibern, die mit ihren Liebhabern durchgehen. Sie stand in ihrem Stolz ihrem Gatten nicht nach, dem hochmütigsten der Ricos hombres von ganz Spanien. Dazu war sie sehr fromm, geradezu überfromm. Sie hat dauernd in Sierra-Leone gewohnt, einem einsamen Schloß aus rotem Marmor, wo die Adler vor Langeweile tot aus ihren Felsennestern fallen. Eines Tages war die Herzogin von dort verschwunden, und seitdem lebt der Herzog, ein Mann wie aus der Zeit Karls des Fünften, den keiner zu fragen wagt, in Madrid, wo man von seiner Frau und ihrem spurlosen Verschwinden so wenig spricht, als habe sie nie gelebt. Sie stammt aus dem Hause Torre- Cremata. Mit ihr stirbt der italienische Zweig dieses Geschlechts aus...«
»Das ist sie!« unterbrach ihn der Spieler, indem er in seinem Merkbuch nachlas. »Also vermelde ich Eurer Exzellenz gehorsamst«, fügte er feierlich hinzu, »daß die Herzogin d'Arcos von Sierra-Leone heute vormittag begraben worden ist, und zwar, wie Sie kaum vermuten dürften, im Friedhof der Salpêtrière.«
Bei dieser Mitteilung legten die Spieler ihre Karten nieder und schauten den Sprecher verwundert an.
»Ja, ja«, sagte dieser, als echter Franzose stolz auf den Eindruck, den er eben gemacht hatte. »Zufällig komme ich heute vormittag an der Spittelskirche vorüber und höre da drinnen feierliche Musik, etwas Ungewöhnliches an diesem Ort. Ich gehe hinein und sehe zu meinem Erstaunen vor dem Hochaltar einen prachtvollen Sarg aufgebahrt mit einem stattlichen Doppelwappen. Die Kirche war beinahe leer. Ein paar alte Frauen saßen in den Bänken. Ich gehe an der so armseligen Trauergesellschaft vorbei, trete an den Sarg und lese in großen silbernen Lettern auf schwarzem Grund folgende Inschrift, die ich mir ihrer Sonderbarkeit wegen abgeschrieben habe, um sie nicht zu vergessen. Lesen Sie:«
Hier ruht
Sanzia Florinda
geborene von Torre-Cremata
Herzogin d'Arcos von Sierra-Leone
eine reumütige Gefallene
gestorben in der Salpêtrière
am 27. Januar 18**
Requiescat in Pace
Die Spieler dachten nicht mehr an ihre Karten. Was den Gesandten anbelangt, so ließ er sich seine Betroffenheit nicht anmerken, nach dem Grundsatz: ein Diplomat darf ebensowenig Erstaunen wie ein Offizier Furcht zeigen. Im Ton, als habe er einen Untergebenen vor sich, fragte er:
»Und Sie haben keine Erkundigungen eingezogen?«
»Nein, Exzellenz!« entgegnete der Spieler. »Es saßen nur ein paar arme Leute da, und die Priester, die mir vielleicht etwas hätten berichten können, waren beschäftigt. Und dann dachte ich daran, daß ich heute abend die Ehre habe, Sie zu treffen.«
»Ich werde morgen sofort Nachforschungen anstellen«, erklärte der Gesandte.
Das Spiel begann von neuem, aber keiner der Herren war mehr so recht bei der Sache. Diese Meister des Whist machten Fehler über Fehler. Sehr bald erhob sich Tressignies, der ganz blaß geworden war, ohne daß es jemandem aufgefallen war, nahm seinen Hut und ging, ohne sich zu verabschieden.
Am nächsten Tag war er in aller Frühe in der Salpêtrière. Er erkundigte sich bei dem Kaplan, einem biederen alten Mann, der ihm allerlei Angaben über 119 machte, unter welcher Nummer die Herzogin Arcos von Sierra-Leone im Spittel aufgenommen worden war. Die Unglückliche hatte also dort geendet, wo sie vorausgesagt hatte, daß sie enden werde. Bei dem fürchterlichen Spiel, das sie gespielt, hatte sie sich die gräßlichste aller Krankheiten zugezogen. »In wenigen Monaten«, so erzählte der alte Priester, »war sie bis auf die Knochen zerfressen. Eines Tages war ihr ein Auge aus der Höhle gefallen und vor die Füße gerollt wie ein Geldstück. Das andere war vereitert und ausgeflossen. Schließlich war sie gestorben, unter entsetzlichen Qualen, aber ruhig und gefaßt. Noch reich an Geld und Geschmeide, hatte sie ein standesgemäßes Begräbnis angeordnet, alles übrige aber den anderen Kranken in der Anstalt vermacht. Zur Sühne ihres lasterhaften Lebens«, berichtete der Geistliche, der keine Ahnung von dem Vorleben der Verstorbenen hatte, »in Reue und Zerknirschung, war es ihr letzter Wille, daß die Inschrift auf ihrem Sarg wie auf ihrem Grabstein die Worte enthalte:
Eine reumütige Gefallene
Das Wort reumütig übrigens wollte sie erst durchaus nicht hinzugesetzt haben. So weit ging ihre Demut!«
Tressignies lächelte wehmütig über die Worte des Biedermannes, aber er ließ ihn bei seiner Einfalt. Er aber, er wußte, daß die Herzogin von Sierra-Leone keine Reumütige gewesen war und alle ihre Selbsterniedrigung bis über ihren Tod hinaus nichts war denn Rache.